Geschichte

Ein Zeitzeuge erinnert sich: So war der Mauerbau 1961 in Berlin

Der 13. August 1961 war ein Sonntag. Schon in der Nacht begannen Polizisten und Soldaten in Berlin damit, den Ostsektor der Stadt abzutrennen. Als Klaus Nowak davon hörte, fuhr er mit dem Rad zum Grenzübergang. Hier erinnert sich der damals 19-Jährige, was er dort erlebte.

von Klaus Nowak · 13. August 2024
Mauerbau in Berlin im August 1961: Die Amerikaner werden sich das nicht gefallen lassen.

Mauerbau in Berlin im August 1961: Die Amerikaner werden sich das nicht gefallen lassen.

Meine Mutter weckte mich am Morgen des 13. August 1961 mit den Worten: Sie machen die Grenzen zu, es fährt auch keine S-Bahn mehr. Wach werden, Waschen, Anziehen, Frühstücken und zum Fahrrad rennen. Ich war damals 19 und wir wohnten in Buch, am Nordrand von Berlin. Der nächste Grenzübergang war in Berlin-Pankow-Wollankstraße. Die zehn Kilometer schaffte ich locker, alle Müdigkeit war verflogen.

Meine Oma war auf einmal unerreichbar

Schon von weitem hörte ich Marschmusik und ständige überlaute, sich überschlagende Ansagen in Lautsprechern. Furchtbar. Als ich angekommen war, sperrten Leute in Kampfgruppenuniform mit umgehängten Maschinengewehren genau unter der S-Bahn-Unterführung die Straße. Hier war die Grenze zwischen dem sowjetischen und britischen Sektor Berlins. Vier Fahrradminuten weiter in der Wriezener Straße wohnte meine Oma, jetzt unerreichbar, wirklich? Im Hinterkopf auch meine gleichaltrigen Cousins und Cousinen in Westberlin, meine Onkels, meine Tanten.

Vier, vielleicht fünf Autos mit Mikrofonen und Lautsprechern waren da. Es wurde geschrien und gebrüllt, dass wir, die Bevölkerung, keine Gruppen zu bilden hätten. „Gehen Sie auseinander! Gehen Sie auseinander! Sie sollen sich nicht zusammenrotten, sofort auseinandergehen!“ Meine Gruppe wurde größer und näherte sich immer mehr den Kampfgruppen, vielleicht waren es noch zehn Meter, da brüllte ein Vorgesetzter: „Gewehr ab!“ Plötzlich waren auf uns – ich stand mit meinem Fahrrad in der zweiten Reihe – etwa 25 Gewehre gerichtet.

Die Amerikaner werden sich das nicht gefallen lassen

Ich und sicher die meisten anderen auch hatten in der Schule obligatorisch den Film über Ernst Thälmann gesehen. Eine Szene darin zeigte drastisch, wie die Reichswehr während des Januaraufstands 1919 in die Menge schoss. Auch die blutige Niederschlagung des Volksaufstandes in Ungarn hatte ich schnell wieder vor Augen. Aus Angst liefen wir auseinander. Ich war zunächst sehr froh, mit heiler Haut nach Hause fahren zu können.

Die Vorgabe im Elternhaus war: Geh kein Risiko ein! Ich fand das richtig, war ohnehin kein Draufgänger, abwarten war die Devise. Das kann doch nicht ewig dauern. Die Amerikaner werden sich das nicht gefallen lassen, alles wird gut, natürlich, und vor allen Dingen ohne Krieg.

Ein Freund verließ die DDR, zwei andere und ich blieben

Mein Freund Reinhard, schon immer waghalsig, war an einem anderen Grenzübergang. Hier konnten diejenigen Westberliner, die in der Nacht zufällig im Osten waren, unter Vorzeigen ihres Personalausweises von Ost- nach Westberlin zurückgehen. Reinhard gab nicht auf und schlich sich mit seinem Fahrrad in die Gruppe der Westberliner.

Als sich eine Lücke unter Kampfgruppen auftat, schwang er sich aufs Fahrrad, scherte aus und trat mit aller Kraft in die Pedale. Keiner dieser ebenfalls bewaffneten Kontrollposten hatte damit gerechnet. Reinhard kam unbeschadet auf die andere Seite. Dort bejubelte man seine Aktion. Meine Freunde Werner und Peter dagegen blieben wie ich im Osten. 

Die Mauer wurde nach und nach perfektioniert

Was kam danach? Die Welt wurde nicht nur, wie man landläufig sagt, mit Brettern vernagelt, sondern mit Todesstreifen abgeriegelt. Irgendwann sich den Rest der Welt anzusehen, erschien wie eine irre Fantasterei. Zunächst wurden die Absperrungen mit dem im Westen gekauften Stacheldraht nach und nach durch Mauersteine ersetzt. Danach mit Betonblöcken und Panzersperren perfektioniert.

Später kamen Wachtürme, Sichtblenden, Doppelmauer, Schussfeld mit Todesstreifen und Selbstschussanlagen hinzu. Die Kanalisation und Gewässer wurden abgeriegelt, Häuser mit Fluchtmöglichkeiten über die Dächer einfach gesprengt. Es gab viele furchtbare Schicksale und Tote, viele Schwerverletzte, die nie wieder gesund wurden.

„Wir werden gegenüber Republikflüchtigen, also Volksverrätern, keine Gnade kennen“, sagte Albert Norden, Mitglied des Politbüros, das die politische Tagesarbeit übernahm. Allein die Planung von Republikflucht und sogar die Mitwisserschaft wurden mit Gefängnis geahndet. Eine berufliche Karriere war unmöglich, wenn man einmal in Ungnade gefallen war. Der 18-jährige Bruder einer Kollegin erreichte den Westen nicht, wurde angeschossen und verlor beide Beine. Im Betrieb durfte sie darüber mit niemandem sprechen und hatte die Auflage über diesen Vorfall absolutes Stillschweigen zu wahren.

Auf einmal musste der Frieden bewaffnet werden

Keine Unruhe ins Kollektiv bringen, so wurde es in den Parteiversammlungen befohlen. Gelangte ein Kollege der Konkurrenz oder auch ein Arzt in den Westen, hieß es, er sei gestorben, so furchtbar wurde gelogen. Nie wieder sollten wir ein Gewehr in die Hand nehmen, hieß es noch 1950. Nach dem Mauerbau musste der Frieden auf einmal bewaffnet werden. Die Wehrpflicht wurde eingeführt. Die Angst, auch nur das Geringste gegen den Staat zu sagen, nahm ständig zu.

Viele Menschen änderten nur um ihrer Vorteile willen ihrer Haltung. Die ohnehin sehr eingeschränkte Pressefreiheit wurde völlig abgeschafft. Sogar in Kreuzworträtseln wurde nicht mehr nach Klassikern, sondern nur nach bis dahin unbekannten sozialistisch-russischen Dichtern und Schriftstellern gefragt. Auf den Landkarten erschien Westberlin als weiße leere Fläche. Der Sport im Westen wurde jetzt völlig totgeschwiegen. Die DDR-Nationalhymne mit dem Text „Deutschland einig Vaterland“ wurde zwar noch gespielt, durfte aber nicht mehr gesungen werden. Man kann nicht allen Unsinn und nicht jede Untat aufzählen.

Ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Noch 28 Jahre dauerte dieser Zustand. Die schlechten Lebensbedingungen in der ehemaligen Sowjetunion uns die hohen Rüstungskosten im gesamten sozialistischen Lager brachten schließlich auch in der DDR den Umschwung. Die zunehmenden Proteste der Friedlichen Revolution erhöhten den Druck. Am 9. November 1989 fiel die Mauer. Ihr Bau war und bleibt ein durch nichts zu rechtfertigendes Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

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