Geschichte

17. Juni 1953 in der DDR: „Der Westen hat uns allein gelassen.“

Am 17. Juni 1953 revoltierte in der DDR eine Million Menschen gegen die SED-Führung. Wolfgang Thierse erlebte die Ereignisse als Kind in Thüringen. Dass der Tag im Westen ein Feiertag wurde, empfand er als „pervers“.
von Kai Doering · 15. Juni 2023
Wolfgang Thierse: Der 17. Juni ist ein wichtiges Kapitel in der deutschen Freiheits- und Demokratiegeschichte.
Wolfgang Thierse: Der 17. Juni ist ein wichtiges Kapitel in der deutschen Freiheits- und Demokratiegeschichte.

Am 17. Juni 1953 waren Sie neun Jahre alt und lebten in einer Kleinstadt in Thüringen. Welche Erinnerungen haben Sie persönlich an diesen Tag?

Die Ereignisse selbst waren weit weg, aber über den Hessischen Rundfunk, den wir in der Familie immer gehört haben, haben wir die Geschehnisse mitbekommen. An meinem Vater habe ich die Aufregung gesehen, mit der er alles verfolgt hat – und schließlich die Enttäuschung, die riesig war.

Die Enttäuschung, dass der Volksaufstand am Ende nicht von Erfolg gekrönt war?

Ja, und die Enttäuschung, dass die Bundesrepublik uns in der DDR allein gelassen hat. Vor dem 17. Juni war mein Vater ein Verehrer von Konrad Adenauer. Nach der Niederschlagung des Aufstands konnte er ihn und seine Reden von den „armen Brüdern und Schwestern in der Sowjetzone“ nicht mehr hören.

Wie bewerten Sie den 17. Juni im Zusammenhang der DDR-Geschichte?

Am 17. Juni 1953 fand der erste Aufstand in einem sowjetisch kontrollierten Land statt – und endete mit einer Niederlage. Mithilfe der sowjetischen Streitkräfte ist das zutiefst erschütterte SED-Regime stabilisiert worden. Heute weiß man ja, dass der Volksaufstand Walter Ulbricht im Amt gehalten hat. Eigentlich wollte die KPdSU-Führung ihn fallen lassen, brauchte ihn in dieser Situation aber als Vollstrecker ihres Willens.

Wie wurde in Ihrem Umfeld später an den 17. Juni erinnert?

Eine offizielle Erinnerung durfte es nicht geben. Die Staatsführung hatte die Ereignisse ja zu einem vom Westen initiierten faschistischen Aufstand erklärt. Wir wurden daran aber jedes Jahr erinnert, und zwar vom Westen. Die Bundesrepublik erklärte den 17. Juni ja schon ein paar Tage nach den Ereignissen zum Feiertag und er blieb es bis zur Wiedervereinigung 1990. Das empfanden wir schon damals als pervers, weil damit im Westen an die Niederlage der DDR-Bürger erinnert wurde. Im Osten wurde ein Aufstand brutal niedergeschlagen und im Westen haben die Menschen an diesem Tag frei und fahren in Grüne. Das war das vorherrschende Gefühl.

In einer Rede zum 50. Jahrestag des Volksaufstands haben Sie gesagt: „Der 17. Juni stellte die erste große Enttäuschungserfahrung der Ostdeutschen dar.“ Wie hat sie das geprägt?

In den gesamten 50er Jahren gab es eine zunehmen Fluchtwelle aus der DDR, die erst mit dem Bau der Mauer abrupt beendet wurde. Die DDR-Geschichte ist insgesamt eine Geschichte enttäuschter Hoffnungen und bitterer Niederlagen. Die erste war der 17. Juni. Die Grunderfahrung all dieser Niederlagen war: Wenn sich in Moskau nichts ändert, gibt es keine Chance, dass sich bei uns etwas ändert. Das war nicht nur den Menschen in der DDR klar, sondern später auch Willy Brandt und Egon Bahr. Es wurde ein Auslöser ihrer Ostpolitik.

Wäre der Mauerfall am 9. November 1989 ohne den 17. Juni 1953 also gar nicht möglich gewesen?

Natürlich haben die beiden Daten etwas miteinander zu tun. Der 17. Juni ist ein wichtiges Kapitel in der deutschen Freiheits- und Demokratiegeschichte. Ob das eine aus dem anderen folgte, kann ich nicht sagen, aber nach dem 17. Juni war klar, dass der Weg über Veränderungen nur über Moskau führen kann. Das haben Willy Brandt und Egon Bahr erkannt und letztendlich hat es zur Wiedervereinigung geführt. Michail Gorbatschow hatte die historische Lektion gelernt und sich anders verhalten als die russischen Machthaber im Juni 1953.

Inzwischen ist der 17. Juni in Ost und West bei vielen in Vergessenheit geraten. Woran liegt das?

Leider spielen historische Ereignisse in Deutschland eine immer geringere Rolle im Bewusstsein der Menschen. Das ist kein moralischer Vorwurf, sondern lediglich eine Feststellung. In einer immer schneller werdenden Zeit hat geschichtliche Verwurzelung immer weniger eine Chance.

Sollte die Politik versuchen, den 17. Juni wieder stärker ins Bewusstsein der Menschen zu holen?

Da kommt es darauf an, wie das geschieht. Dem 17. Juni wieder einen angemessenen Platz in der deutschen Demokratie- und Freiheitsgeschichte einzuräumen, fände ich richtig – auch wenn er ein Tag der Niederlage war.

Die AfD und andere versuchen eine Verbindung zwischen den Geschehnissen damals und der Situation heute herzustellen. Sehen Sie die Gefahr, dass der 17. Juni von rechten Kräften gekapert werden könnte?

Rechtspopulisten und Rechtsextremisten haben keinerlei Hemmungen, Geschichte umzudeuten und für ihre Zwecke zu missbrauchen. Das sehen wir ja bereits bei der Friedlichen Revolution. Das ist glatte Geschichtsfälschung. Beim 17. Juni sehe ich keine allzu große Gefahr, weil er nicht mehr so verankert ist im kollektiven Bewusstsein. Aber wir sollten trotzdem wachsam sein.

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Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

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