Mauerfall: „Wir müssen weg von dem reinen Rückblick.“
imago images/Martin Müller
Beim Mauerfall am 9. November 1989 waren Sie in Dresden. Sie waren damals 15 Jahre alt. Wie haben Sie den Tag und die folgende Zeit erlebt?
Ich bezeichne mich gern als „Kind des politischen Umbruchs“. Das beschreibt das, was ich damals erlebt habe, ganz gut. Mit 15 beginnt man ja, die Welt zu befragen und sich seinen Platz zu suchen. Vor diesem Hintergrund habe ich die Wochen vor und nach dem 9. November als eine sehr intensive und spannende Zeit erlebt, die mich auch sehr geprägt hat. Ein System verschwand und ein neues kam. Das hat überall Spuren hinterlassen. In Dresden entstanden über Nacht Cafés, eine ganze kulturelle Szene entwickelte sich, es gab in den Familien und in der Schule intensive Gespräche über mögliche Wege des deutsch-deutschen Einigungsprozess. Damals schon gab es auch kritische Stimmen. Vielen ging der Prozess der Wiedervereinigung zu schnell. Diese Stimmen verstummten allerdings auch sehr bald.
Ich habe in den folgenden Monaten und Jahren großen Respekt gegenüber den Menschen aus Ostdeutschland verspürt, die von null auf hundert in ein neues System katapultiert worden, das sie bisher nur aus dem Fernsehen und Radio kannten. Von den Menschen, die ihr ganzes Leben in der DDR verbracht hatten, wurde viel abverlangt. Es hieß Umschalten. Aufstehen. Weiterlaufen. Und die neuen Regeln des neuen Landes – die geschriebenen und ungeschriebenen – zu lernen.
Das Buch, das Sie gerade zu ost- und westdeutschen Identitäten herausgegeben haben, trägt den doppeldeutigen Titel „Traum(a)land“. Welche Traumata müssen 32 Jahren nach dem Mauerfall noch verarbeitet werden?
Aus meiner Sicht ist es traumatisch, wie lange nicht zwischen Ost- und Westdeutschland kommuniziert wurde. Man ging davon, dass die gleiche Sprache gesprochen wird. Dem war aber nicht so: Beide Landesteile hatten lange keine gemeinsame Gesprächsbasis, für die ein „Verstehen-Wollen“ Voraussetzung ist. Und vorurteilsfreie Neugier aufeinander. Auf was, was anders ist, auf das, was die Menschen in Ost und West unterschiedlich geprägt hat. Häufig fehlt sie noch heute. Der Westberliner DDR-Forscher Ralf Rytlewski untersucht im Buch in seinem Beitrag „Missverstehen ohne Ende?“, wie in der Sprache bis heute Mauern gebaut werden, weil Begriffe in Ost und West unterschiedlich verstanden werden, weil sie nie geklärt worden sind, wie bsw. Solidarität oder Pazifismus. Hier machen sich 40 Jahre unterschiedliche Sozialisation noch immer bemerkbar. Das ist ein Punkt, an dem wir dringend arbeiten sollten, damit die „innere Einheit“ gelingt.
Wie tief sitzt das Trauma der – zumindest gefühlten – „Übernahme“ des Ostens durch den Westen, die etwa der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk untersucht hat?
Das spielt durchaus noch eine Rolle. Der Wiedervereinigungsprozess ging ja von Anfang an von einer Angleichung und Anpassung aus: Das Gebiet der ehemaligen DDR sollte angeglichen werden an „das Normale“, das die alte Bundesrepublik verkörperte. Dass dies kein guter Weg war, zeigt sich in den letzten Jahren immer mehr. Ostdeutschland entwickelt sich in vielem anders und muss es auch, weil die Menschen hier jahrzehntelang andere Erfahrungen gemacht haben. Die Aufgabe für die nachgewachsene Generation, die die Teilung nicht mehr erlebt hat, wird sein, die Unterschiede wahrzunehmen, aber auch zu überwinden. Die Probleme, mit der die junge Generation in Ost wie West zu kämpfen hat, sind ja auch dieselben. Sie reichen vom Klimawandel bis zur Prekarisierung vieler Lebensbereiche. Wir müssen weg von dem reinen Rückblick. Auch das wird in unserem Buch sehr deutlich.
Mit Ihrem Buch versuchen Sie die beschriebene Sprachlosigkeit zwischen Ost und West zu überwinden. Die Autor*innen schreiben aus unterschiedlichen Blickwinkeln über Identität und Zusammenhalt. Ausgang ist dabei immer ein Kunstwerk. Warum haben Sie diesen Ansatz gewählt?
Ich wollte gern aus den alten Erzählmustern heraus und hatte das Gefühl, auf dieses Weise ein neues Produkt politischer Bildungsarbeit schaffen zu können. Ich wollte die Kraft der Kunst nutzbar machen, um bisher Ungesagtes an die Oberfläche zu bringen und Zusammenhänge sichtbar zu machen. Ich bin sehr froh und dankbar, dass sich alle Autorinnen und Autoren darauf eingelassen haben, übrigens nicht nur aus Deutschland, sondern auch international. Wir haben ihnen bewusst keinerlei Vorgaben bei der Auswahl des Kunstwerks gegeben und ich kann wirklich sagen, dass da wahre Schätze „geborgen“ worden sind. Die ausgewählten Kunstwerke, die nahezu alle Sparten abdecken, umfassen vielfältige Zeitepochen (u.a. auch aus der DDR) und stammen von deutschen sowie internationalen Künstler*innen. Leit- und Sinnbild des Buches ist übrigens die Fotografie der jüngst verstorbenen Grand Dame der ostdeutschen Fotografie, Evelyn Richter mit dem Titel „An der Museumsinsel, 1972“. Auf dem von Ost- nach Westberlin fahrenden abgebildeten Schiff steht auf dem Bug der Name „Traumland“.
Ich denke, Leserinnen und Leser aus Ost wie West werden eine Menge erfahren, was sie bisher nicht wussten. Wir in Deutschland, in Europa haben eine gemeinsame Geschichte. Wir müssen sie aber anders erzählen – weg von den Stereotypen und raus aus den Missverständnis-Schleifen, in der wir uns die letzten Jahre bewegt haben.
Sie haben die politische Bildungsarbeit bereits angesprochen. Wer sollte das Buch auf jeden Fall lesen?
Ich würde mich sehr freuen, wenn unser Buch in vielen Schulen, aber auch in Universitäten zum Einsatz käme; es gerade in Westdeutschland viele Leser*innen finden wird. Viele Autorinnen und Autoren beschreiben sehr anschaulich, wie sie individuell die DDR erlebt haben – mit ihren vielfältigen Facetten. Das kann jungen Menschen heute sicher sehr beim Verständnis helfen, was die DDR eigentlich war und in der Erinnerung für viele Menschen auch immer noch ist. Deshalb werden wir das Buch auch mit einer Lesereise begleiten, die sich bis ins nächste Jahr zieht. Dabei freue ich mich, dass das Interesse besonders in den alten Bundesländern sehr groß ist.
Zum Schluss nochmal zurück zum Buchtitel: Was muss passieren, damit aus dem „Traumaland“ ein „Traumland“ wird?
Das ist die große Frage. Die Transformation aller gesellschaftlichen Bereiche greift ja um sich. Damit sind viele Verunsicherungen und Ängste die Zukunft betreffend verbunden. Die Fragen, die wir uns in Ost und West gleichermaßen stellen müssen, sind doch:
Wie können die Digitalisierung, Strukturwandel und klimabezogene Veränderungsprozesse positiv für und mit den Bürger*innen gestaltet und ihre Transformationserfahrungen integriert werden? Wie kann ihnen der Angst vor Wandel und sozialer Unsicherheiten genommen werden? Gerade sozialdemokratische Politik muss dafür sorgen, dass die Menschen von ihrer Arbeit gut leben können, dass ihr Lebens- und Arbeitsleistung entsprechend gesehen und gewürdigt werden. Deshalb ist beispielsweise die geplante Erhöhung des Mindestlohns auch so wichtig. Nur wenn die Menschen soziale Sicherheit spüren, Zuversicht für die Zukunft besteht, kann auch ein stabiles Gemeinwesen entstehen, an dem sich alle gleichermaßen beteiligen und das sich gegen Fremdenfeindlichkeit und Populismus zur Wehr setzen kann.
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Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.