Geschichte

9. November 1989: Als die Menschen in der DDR die Angst zuhause ließen

Die da Oben konnten nicht mehr, die da Unten wollten nicht mehr. Die vier entscheidenden Wochen zwischen dem 9. Oktober und dem 9. November 1989 haben gezeigt, dass Deutsche in der Lage sind, aus eigener Kraft ein diktatorisches System abzuschütteln.
von Friedrich Schorlemmer · 8. November 2019
Go West: Ausgerechnet der 9. November wurde zur deutschen Wahnsinns-Nacht.
Go West: Ausgerechnet der 9. November wurde zur deutschen Wahnsinns-Nacht.

Herbst 1989: Das so lang gehorsame Ostvolk erhob sich in einer Feierabendrevolution und stellte in den Mittelpunkt: Meinungsfreiheit, Entfaltungsfreiheit, Reisefreiheit, Vereinigungsfreiheit, Umweltschutz – statt Indoktrination Dialog, statt Parteilinie eigenes Denken, statt Angst Mitverantwortung, statt verschlossener Tore offene Grenzen, statt vorurteilsgeladener Feindbilder  differenzierendes Denken, statt Stigmatisieren das Einander-Kennen-Lernen, Abrüsten statt Wettrüsten.

Honeckers Tage waren gezählt

Die benachbarten Polen hatten die Kohlen aus dem Feuer geholt. Gorbatschow wurde mit „Gorbi, Gorbi! Gorbi!“-Rufen begrüßt. Nie wäre je jemand auf die Idee gekommen, Erich Honecker mit dem Kosewort „Honni“ zu empfangen. „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“ Das war die rhetorisch wie politisch wirksame Parole eines längeren Zusammenhangs, in dem der sowjetische Generalsekretär hintersinnig erklärte, dass Probleme nur auf denjenigen warten, der nicht rechtzeitig auf sie zu reagieren verstünde.

Honeckers Tage waren fortan gezählt. Er selbst hatte die Signale aus dem Volk nicht gehört, obwohl er alles hatte abhören lassen. Der Herbst 1989 lässt sich eine Aneinanderreihung glücklicher Umstände beschreiben – ehe es zu der großen friedlichen Oktoberrevolution gekommen war. Die den Polen abgeguckten Runden Tische dienten als Möbelstück für einen zivilisierten Übergang von einem diktatorischen Ein-Parteien-System in eine parlamentarisch-demokratische Ordnung.

Die Menschen waren auf die Straßen gegangen; sie hatten ihre Angst zuhause gelassen. Die Stimme des Volkes schrie anfangs ihr forderndes „Wir wollen raus!“ Die andere Stimme ließ bald daraufhin ihr trotziges „Wir bleiben hier“ erschallen. Widerständisch-aufständisch dagegenhalten, statt resigniert auszureißen!

Show-Down in der Bornholmer Straße

Nicht vor der Macht erzittern, sondern die Macht erzittern lassen. Die Gummiknüppelbewehrten wurden konfrontiert mit dem Ruf „Keine Gewalt“ und das hielt sich – bis auf einige äußerst gefährliche Übergriffe etwa in Dresden – durch. Sowjetische Kasernen blieben tabu und deren Panzer still.

Offene Worte wurden durch offene Mikrofone erst in den Kirchen, dann auf den Straßen und Plätzen gewagt. Es gehört zu den wunderbaren Überraschungen, wie viele sich an die Öffentlichkeit trauten und das zu einer Zeit, da der Ausgang noch ganz offen vor uns lag, die Panzerwalze vom Platz des Himmlischen Friedens vor Augen. So lang Schweigende erwiesen sich als sprachfähiges Volk.

Nach Feierabend versammelten sich von Rügen bis Suhl die lange gedemütigten DDR-Bürger, die der SED den Laufpass gaben. Nirgendwo wurde der durch die chinesischen Ereignisse durchaus erwartete Befehl ausgegeben. (Hinterher erscheint alles so leicht und wie folgerichtig.) In der Bornholmer Straße kam es zum Show-Down.

Der verantwortliche Grenzoffizier Harald Jäger hatte kein West-Fernsehen gesehen und Schabowski Ausrutscher verpaßt. Auf einen Befehl von Oben hatte er vergeblich gewartet, als Tausende an seiner Grenzübergangsstelle dichtgedrängt stehend riefen: „Macht das Tor auf!“

Das Wunder von Berlin

Ausgerechnet der 9. November wurde zur deutschen Wahnsinns-Nacht. Wir neuvereinigten Deutschen sollten in Ost und West nicht aufhören, an dieses Wunder von Berlin zu erinnern, uns daran zu freuen, um uns sodann den jetzt aufgetauchten großen Problemen als eine freie und geeinte, eine friedliebende und sozialverpflichtete europäische Nation zuzuwenden.

Die da Oben konnten nicht mehr; die da Unten wollten nicht mehr. Das System war in jeder Weise am Ende. Man hätte wohl noch zuschlagen, aber kein lebensfähiges System mehr hinterlassen können. Befehlsgeber wie Untergebene hatten doch einen unbedingten Gehorsamseid geschworen, den "Friedensstaat" mit allen Mitteln zu verteidigen. Es hätte nur irgendwo eines entsprechenden Befehls bedurft und eine Gewaltlawine wäre über uns hinweggefegt. Um es zuzuspitzen: Gerechtigkeit für Hans Modrow, selbst für Egon Krenz; sie werden nicht Dankbarkeit erwarten, aber einen gewissen Respekt haben sie verdient.

Vom 9. Oktober zum 9. November

In jenem – inzwischen sehr fernliegenden – milden Herbst und Winter '89 organisierte sich mutiger Widerstand. Unabgesprochen, unorganisiert, informiert weithin durch West-Medien vollzog sich ein demokratischer Umbruch – mächtig-gewaltlos, nicht machtvoll-gewaltvoll.

Der 9. Oktober in Leipzig wurde zum Symboldatum, wiewohl andere Städte jeweils an ihren Orten Würdigung verdienen. Es seien Plauen und Arnstadt, Dresden und Halle, Grimma und Zwickau, Halberstadt und Wittenberg, Güstrow und Erfurt genannt.

Die vier entscheidenden Wochen zwischen dem 9. Oktober und dem 9. November haben gezeigt, dass Deutsche in der Lage sind, aus eigener Kraft ein diktatorisches System abzuschütteln, in Freiheit zur Einheit zu kommen, ohne dass jemand anderer dies zu fürchten hätte.

Das Ergebnis der Brandt'schen Entspannungspolitik

Das ist auch der besonnenen, beharrlichen, glaubwürdigen Brandt'schen Entspannungspolitik zu danken, die Hans-Dietrich Genscher 1982 aus der sozialliberalen Koalition heraus hinüberrettete, die in der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit (KSZE) ein letztlich wirkungsvolles Instrument zur Überwindung des Kalten Krieges, zu Abbau der Waffen und  Abbau der Angst schuf.

Genau dies bleibt heute Kardinalaufgabe deutscher Außenpolitik: im Konflikt zusammen mit Russland nach Wegen für beidseitige Sicherheit und Zusammenarbeit zu suchen. Und in der Innenpolitik? Nichts wäre kontraproduktiver, als dass wir unsere politische Agenda von den Ausfällen der AfD bestimmen lassen. Zugleich muss man den Ursachen einer demokratiefeindlichen Stimmung nachgehen und Politik „von oben“ so betreiben, dass sie bei den Leuten „da unten“ ankommt und alles tut, um die Akzeptanz der liberalen Demokratie gegen ihre Feinde offensiv und selbstbewusst  zu verteidigen.

Wer in der Demokratie einschläft, sehe zu, dass er nicht in der Diktatur aufwacht. Die Schwierigkeiten in der Demokratie lohnen es allemal, sich streitbar und lösungsorientiert mit engagiertem und zivilisiertem Streiten einzusetzen, statt sich im Ressentiment einzurichten. Demokraten brauchen – um mit Willy Brandt zu reden – den Mut zum Dafür.

Autor*in
Friedrich Schorlemmer

ist evangelischer Theologe, Bürgerrechtler und Mitglied der SPD. In der DDR war er in der Opposition aktiv. Schorlemmer ist Gründungsmitglied des Instituts Solidarische Moderne und engagiert sich für das globalisierungskritische Netzwerk attac.

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