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Immer aggressiver: Wie Putin den Krieg gegen Europas Demokratien eskaliert

Bei seinen verdeckten Attacken auf europäische Staaten geht Russland immer massiver vor. Das Ziel des Kreml: Verunsicherung, Destabilisierung, Chaos. Europas Regierungen sind alarmiert.

von Lars Haferkamp · 22. Juli 2024
Großbrand in Warschau: Am 12. Mai 2024 brennt das Einkaufzentrum Marywilska 44 mit 1.400 Geschäften komplett ab. Auch der Großeinsatz von 300 Feuerwehrleuten kann die Flammen nicht stoppen.

Großbrand in Warschau: Am 12. Mai 2024 brennt das Einkaufzentrum Marywilska 44 mit 1.400 Geschäften komplett ab. Auch der Großeinsatz von 300 Feuerwehrleuten kann die Flammen nicht stoppen.

Droht ein Angriff Russlands auf NATO-Staaten? Als Wladimir Putin auf einer internationalen Pressekonferenz im Juni in St. Petersburg danach gefragt wird, fährt er aus der Haut. „Seid ihr völlig durchgedreht?“, blafft er die Journalist*innen an. „Wer hat sich das ausgedacht? Das ist kompletter Unsinn!“

Ist es das? Beruhigen wird dieses „Dementi“ des Kremlherrschers wohl nur wenige. Denn zum einen äußerte sich die russische Regierung ganz ähnlich kurz vor dem Einmarsch in die Ukraine im Februar 2022. Da verhöhnte Außenminister Sergej Lawrow entsprechende Befürchtungen als „geisteskrank“.

Russland führt einen verdeckten Krieg

Zum anderen führt Russland bereits Krieg gegen NATO-Staaten – wohlgemerkt: keinen offenen militärischen, der die Allianz zum Beistand verpflichten würde, sondern einen verdeckten geheimdienstlichen, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln. Dass die russische Regierung dabei auch vor Mord nicht zurückschreckt, hat sie seit Jahren immer wieder bewiesen.

Geheimdienstexperte Erich Schmidt-Eenboom hält das Spionageproblem durch Russland auch deshalb für „ausgesprochen groß, weil dieser ganze Staat ein nachrichtendienstlicher Apparat ist“, wie er in der „Berliner Zeitung“ vor kurzem erklärte. „Das beginnt mit dem ehemaligen KGB-Mann Putin an der Spitze.“ Für Schmidt-Eenboom ist klar: „Die russischen Nachrichtendienste agieren immer aggressiver.“

Mysteriöse Brandanschläge

So häufen sich in den vergangenen Monaten mysteriöse Brandanschläge, die westliche Geheimdienste Russland zuordnen. Polen wird zum Beispiel Opfer zahlreicher Großbrände. Dabei wird im Mai in Warschau ein Einkaufszentrum mit 1.400 Geschäften zerstört. Russland soll gezielt Brandstifter*innen im kriminellen Milieu Polens rekrutieren und ihnen pro Anschlag 15.000 Euro zahlen, so die Ermittler*innen. 

In der litauischen Hauptstadt Vilnius brennt, ebenfalls im Mai, eine Ikea-Filiale. In London brennt im März ein Lagerhaus. Es steht laut britischen Sicherheitsbehörden in Verbindung mit Rüstungslieferungen an die Ukraine. Die Beispiele ließen sich fortsetzen.

Sabotage zu Wasser und an Land

Russlands Geheimdiensten wird die Verantwortung für zahlreiche Sabotageakte angelastet. Der prominenteste: Die Ostsee-Pipelines Nordstream 1 und 2 werden im September 2022 durch Explosionen in schwedischen und dänischen Gewässern zerstört. Im vergangenen Winter wird die Pipeline „Balticconnector” zwischen Finnland und Estland schwer beschädigt. Sämtliche Anschläge werden von westlichen Sicherheitsexpert*innen Russland zugeschrieben. Kein Wunder, dass etwa die Regierung Irlands in Sorge ist, Russland könne auch die Unterseekabel im Atlantik angreifen.

Europas Bahnen sind ein weiteres Sabotageziel Moskaus. Anfang Juni können die Behörden in Prag einen geplanten Brandanschlag auf die Busflotte verhindern. Es sei „sehr wahrscheinlich“, dass Russland dahinterstecke, so Premierminister Petr Fiala. Die tschechische Regierung sieht darüber hinaus „tausende“ Versuche, das Schienen- und IT-Netz der tschechischen Bahn zu sabotieren. Opfer wird auch Schweden: Auf einer der wichtigsten Bahnlinien des Landes entgleisen im vergangenen Winter zwei Züge. Und in Polen werden im März Überwachungskameras an den Bahnstrecken entdeckt, auf denen westliche Rüstungsgüter in die Ukraine transportiert werden. Laut Polens Innenminister Mariusz Kamiński stehen die Täter auf der Gehaltsliste des russischen Geheimdienstes.

Tausende Migrant*innen eingeschleust

In seinem Kampf gegen den Westen nutzt Russland auch Asylsuchende. Sie werden zu tausenden nach Finnland, Lettland, Litauen und Polen geschleust, über die Grenzen Russlands und von Belarus. So gelangen Ende 2023 1.300 Migrant*innen aus dem Nahen Osten und Afrika nach Finnland. Und das geht so: Russland transportiert die Menschen in die Grenzzone. Dann wird die russische Grenze mit Barrieren geschlossen. Den Menschen ist der Rückweg abgeschnitten. Sie können nur Richtung Westen weiter. So schleust Russland sogar Kriegsverbrecher in den Westen.

Polens Ministerpräsident Donald Tusk sagt gegenüber Journalist*innen, „eine solche Situation haben wir seit 1945 nicht mehr erlebt“. Mit Milliardeninvestitionen wollen die betroffenen Staaten ihre Grenzen künftig besser vor russischen Attacken schützen. So will Finnland einen Hunderte Kilometer langen Grenzzaun zu Russland errichten. Auch Polen plant einen massiven Ausbau seines Grenzschutzes.

Von der Grenzverletzung zur Grenzverschiebung

Grenzverletzungen zu Wasser oder in der Luft sind ein weiteres Mittel Russlands zur Verunsicherung der europäischen Staaten. Verletzungen des Luftraums oder der Hoheitsgewässer erleben etwa Schweden, Finnland und besonders oft Polen. Russische Flugzeuge und Schiffe dringen immer wieder gezielt in den Hoheitsbereich europäischer Länder ein und testen so deren Verteidigungsfähigkeit. Dann steigen Abfangjäger der betroffenen Staaten auf und eskortieren die Russen aus ihrem Hoheitsbereich. Das Ganze zu Ignorieren, ist keine Option, wird Lettlands Präsident Edgars Rinkevics in Medien zitiert, „denn wenn wir nicht antworten, werden diese Angriffe zunehmen“.

Mittlerweile geht es nicht mehr nur um Grenzverletzungen, sondern um Grenzverschiebungen durch Russland. So entfernt Russland im Mai dutzende Grenzbojen im Fluss Narva, der die Grenze zwischen Russland und Estland und zugleich die östliche Außengrenze der EU und der NATO bildet. Parallel dazu wird ein Dokument der russischen Regierung im Internet veröffentlicht, das den Willen Russlands zur Verschiebung der Seegrenzen zu Estland und Finnland sowie im Raum Kaliningrad belegen soll. Die große Frage im Westen ist nun: Wann wird aus den Plänen Realität? Wann überschreitet russisches Militär offen die Grenzen eines NATO-Staates? Eines steht fest: Die Folgen wären unabsehbar.

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5 Kommentare

Gespeichert von Armin Christ (nicht überprüft) am Di., 23.07.2024 - 10:25

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"Sämtliche Anschläge werden von westlichen Sicherheitsexpert*innen Russland zugeschrieben." Sogar Nordstream ist wieder dabei, obwohl man behauptet andere Täter identifiziert zu haben.
Die Stimmungsmache mit dem verlässlichen (z.b.: Sadam Hussein´s Giftgas) geheimdienstlichen Hörensagen sollte man nicht übertreiben, denn darrunter könnte die Glaubwürdigkeit leiden.

Gespeichert von Helmut Gelhardt (nicht überprüft) am Di., 23.07.2024 - 12:16

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Wie gut ist es doch da, dass die NATO seit ihrer Gründung bis heute die Personifizierung/die Reinkarnation der Friedenstaube ist.

Gespeichert von Rudolf Isfort (nicht überprüft) am Di., 23.07.2024 - 15:16

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„Droht ein Angriff Russlands auf NATO-Staaten?“ – Putin „blafft“ nein, aber „beruhigen wird dieses „Dementi“ des Kremlherrschers wohl nur wenige“. Da Pistorius sogar schon weiß, wann (ungefähr) der Angriff geschehen wird, hat der Vorwärts die Plausibilität für seine Annahme mit nahezu 100%iger Wahrscheinlichkeit quasi zur Tatsache verdichtet, zumal „Russland bereits Krieg gegen NATO-Staaten führt, ... (wenn auch nur) einen verdeckten geheimdienstlichen, (aber) mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln“ – Mord eingeschlossen. („Wie Putin Krieg gegen Deutschlands Demokratie führt“, hat der Vorwärts schon am 12.7.24 beschrieben.)

Die Mittel sind „mysteriöse Brandanschläge“, steigern sich zur Sabotage „zu Wasser (Nordstream 1 und 2, „Balticconnector”) und an Land" (Europas Bahnen), und kulminieren darin, dass „Russland auch Asylsuchende zu tausenden nach Finnland, Lettland schleust“ - Kriegsverbrecher eingeschlossen.
Dass „Asylsuchende“ Europa in „Verunsicherung, Destabilisierung, Chaos“ stürzen, hätte ich jetzt nicht erwartet, denn in unserem Lande höre ich sowas nur von der AfD, und die ist ja nun wirklich kein guter Ratgeber. Zu Nord-Stream musste das ZDF (7.2.24) berichten, dass „noch immer nicht geklärt“ ist, „wer hinter den Anschlägen steckt“, zumal alle bisherigen Ermittler „sich bedeckt hielten“ und nicht aufdeckten, ob „die USA, Russland oder die Ukraine“, die Hauptverdächtigen, die Täter waren. Bahnen, jedenfalls bei uns, wären ein leichtes Ziel für „Täter auf der Gehaltsliste des russischen Geheimdienstes“, denn es reichte ja, einen geeigneten Baum zu fällen, ein Kupferkabel zu klauen, in den richtigen „Stellwerken“ einen größeren China-Böller zu zünden oder „mysteriöse Brandanschläge“ zu begehen, um erhebliches Chaos anzurichten. Eine Pipeline zu sprengen oder „die Unterseekabel im Atlantik anzugreifen“, sind da schon anspruchsvoller in der Vorbereitung. Und wie leicht (fast) nicht nur ein Land lahmgelegt werden kann, haben wir am 20.7. gesehen, als eine „IT-Panne weltweit für Probleme sorgte“. Wer weiß, vielleicht steckt hinter dieser „IT-Panne“ auch der russische Geheimdienst – noch haben unsere Geheimdienste sich der Sache nicht angenommen.

Vielleicht ist die Beobachtung des Vorwärts richtig; ich bestreite sie gar nicht. (Krieg ist aber ein zu starkes Wort dafür, gemessen daran, was Krieg in der Ukraine, im Gaza, im Jemen u. a. bedeutet.) Mich interessiert viel mehr, wie dieser „Krieg“ und sein Hintergrund, der Ukraine-Konflikt, erklärt und, mit der richtigen Erklärung, kurzfristig gelöst und zukünftig abgewendet werden kann.
Warum Putin Krieg gegen die Ukraine führt und jetzt noch verdeckt, bald aber offen gegen die Nato, verrät der Vorwärts mit keinem Wort; wahrscheinlich hält er es mit von Lucke: „Weil er (Putin) es kann“, oder, geringfügig abgeändert aber ebenso schlicht, „weil er dachte, damit durchzukommen“ (Nicole Deitelhoff: Blätter ..., (6(2022)67). Natürlich weiß Deitelhoff, was (u. a.) die „Gründe und Abgründe des gegenwärtigen Konflikts (sind, dass nämlich) ... der Westen, allen voran die USA, ihren Einflussbereich vermittels der Nato immer weiter in den Osten und damit an die Türschwelle Russlands ausgedehnt hat, (obwohl) ... Russland diese mehrfachen Osterweiterungen der Nato ablehnte“. Seit Kamala Harris klarlegte, dass „Amerika nicht aus Nächstenliebe an der Seite der Ukraine steht, sondern weil es in unserem strategischen Interesse ist (Spiegel, 15.6.24)“, lässt sich „imperiale Besessenheit“ (Steinmeier) nicht mehr als (alleiniger) Kriegsgrund annehmen. So zynisch- lapidar wie das „Friedensgutachten 2024“ (S. 105) wollen wir auch nicht sein und annehmen, „dass der russische Krieg gegen die Ukraine zu einer Testumgebung verschiedenster neuer Militärtechnologien und taktischer und strategischer Anwendungsoptionen geworden ist“. Nein, Nato und Russische Föderation hatten und haben unterschiedliche strategische Forderungen zum Status der Ukraine. Beide rückten von ihrem Anspruch nicht ab, ihre „strategische Umgebung“ (Nato) regeln zu dürfen. Leider spielen in (geo-) strategischen Angelegenheiten Völkerrecht, wertebasierte Imperative, feministische Politik eher keine Rolle, für keine Großmacht, wie auch die Nato-Mitglieder wiederholt gelernt haben. Russland fühlte sich strategisch im Recht und überfiel die Ukraine. Der Westen, die Nato, also wir, springen der Ukraine bei mit Geld, Waffen, politischer Unterstützung, Logistik und Sanktionen, die Russlands Wirtschaft „ruinieren“ sollten: Wir sind mit Russland faktisch im Krieg, wenn auch nicht völkerrechtlich. Es kann uns daher empören, sollte uns aber nicht wundern, dass unsere Hilfe eine Reaktion der Russischen Föderation auslöste.
Auch wenn wir uns im Recht wissen – gemessen an den Problemen, die unsere Unterstützung der Ukraine der Russische Föderation machen, ist der vom Vorwärts aufgedeckte „Krieg“ nicht einmal ein Nadelstich. Da die vom Vorwärts aufgedeckten Kriegsziele – vermute ich – nie ausreichend gegen professionelle Sabotagegeschützt werden können, steht zu befürchten, dass wir diesen „Krieg“ nicht gewinnen können. Seinen Hintergrund, den Krieg in der Ukraine, können wir wahrscheinlich auch nicht gewinnen. „Bei einer Fortsetzung des Krieges läuft die Ukraine in eine ökonomische, infrastrukturelle und demographische Katastrophe (August Pradetto: Blätter ...,3(2023)68). Damit die Ukraine gewänne, müsste sie mit unseren Waffen die Aufmarschwege, Stäbe, Logistikzentren hunderte Kilometer nach Russland hinein zerstören. (Zur Illustration: In Wiesbaden sollen in Kürze „ukrainische Streitkräfte ausgebildet und die Waffenlieferungen an die Ukraine koordiniert“ werden (Hessenschau, 18.7.24)). Der Krieg müsste also weit nach Russland hineingetragen werden. Russland würde das nicht akzeptieren und seine „Nuklearwaffen von einem Droh- und Abschreckungspotenzial, also von politischen Waffen, zu Waffen für den militärischen Einsatz“ machen (August Pradetto). Eine unbeherrschbare Eskalation dürfte auch dann entstehen, wenn die Ukraine vor dem Untergang stünde, denn wir können doch den Verteidiger unserer Freiheit und Sicherheit nicht einfach untergehen lassen. Aber selbst wenn durch ein Wunder Russland bereit wäre, eine Niederlage hinzunehmen, würde eine Situation entstehen, die den hybriden Krieg massiv ausdehnen und an der ukrainischen Grenze Verhältnisse schaffen würde, quasi ein „Afghanistan vor ihrer Haustür“ (Adam Tooze: Blätter ..., (8(2022)67).

Es gibt nur eine nachhaltige Lösung in dieser völlig verfahrenen, höchstgefährlichen Konfliktlage – eine einvernehmliche Lösung für die geostrategische Bindung der Ukraine.
Sie gäbe Europa eine zweite Chance für eine nachhaltige, gemeinsame Sicherheitsarchitektur.
Auf die SPD, fürchte ich, kann man dabei nicht hoffen - auf den Vorwärts auch nicht.

Gespeichert von Martin Holzer (nicht überprüft) am Di., 23.07.2024 - 16:51

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"Russlands Geheimdiensten wird die Verantwortung für zahlreiche Sabotageakte angelastet. Der prominenteste: Die Ostsee-Pipelines Nordstream 1 und 2 werden im September 2022 durch Explosionen in schwedischen und dänischen Gewässern zerstört."

Das ist ja wohl der größte Unsinn. Russland hätte davon überhaupt keine Vorteile. Und gäbe es tatsächlich konkrete Hinweise, hätte man Russland schon längts offiziell beschuldigt. Das die Untersuchungen bis heute ergebnislos verlaufen sind, lässt eigentlich nur einen Schluß zu: Es war ein "befreundeter" Staat, vermutlich sogar unsere besten "Freunde".

Gespeichert von Armin Christ (nicht überprüft) am Di., 23.07.2024 - 18:58

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