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Boris Pistorius: „Putins Russland versteht nur die Sprache der Stärke“

Verteidigungsminister Boris Pistorius erklärt, warum er Russlands Drohungen gegen den Westen sehr ernst nimmt. Außerdem sagt er im Interview mit dem „vorwärts“, weshalb er am Begriff „kriegstüchtig“ festhält und warum militärische Stärke eine Voraussetzung für erfolgreiches Verhandeln ist.

von Karin Nink und Kai Doering · 10. Mai 2024
Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) verabschiedet die rund 20 Soldaten des Vorkommandos der Brigade Litauen auf dem Flughafen BER.

Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) verabschiedet die rund 20 Soldaten des Vorkommandos der Brigade Litauen auf dem Flughafen BER.

Der russische Angriffskrieg in der Ukraine ist eine große Herausforderung. Was muss geschehen, damit die Ukraine diesen Krieg übersteht? Manche tun so, als gäbe es da eine Wunderwaffe.
Was ist eine Wunderwaffe?

Ein einzelnes Waffensystem, das die Ukraine ­befähigt, die russischen Soldaten aus dem eigenen Land von heute auf morgen zurückzudrängen und die Grenzen der Ukraine wiederherzustellen? Der Eindruck entsteht in dieser Debatte gelegentlich. Diese Vorstellung ist völlig realitätsfremd. Deutschland unterstützt die Ukrainer mit dem, was sie brauchen – unter anderem mit Luftverteidigungssystemen. In meinen Gesprächen mit Ukrainerinnen und Ukrainern wird immer wieder deutlich: Unsere Systeme, wie etwa die gelieferten IRIS T oder die aus unseren eigenen Bundeswehr-Beständen abgegebenen PATRIOT, retten jeden Tag ­Menschenleben.

Und wir unterstützen die Ukraine mit Munition, die Mangelware auf dem Weltmarkt ist und die die Ukraine in ihrem Abwehrkampf so dringend braucht. So haben wir zum Beispiel Mitte März ein Paket im Wert von über einer Milliarde Euro geschnürt. Darin enthalten sind unter anderem 10.000 Schuss Artilleriemunition aus eigenen Beständen, die wir jetzt sofort liefern können, 100.000 Schuss Munition aus Industrie-Bestellungen. Zudem werden wir die Finanzierung von 180.000 Schuss Munition aus einer tschechischen Initiative übernehmen, deren Auslieferung etwa zur Jahresmitte beginnt.

Insgesamt haben wir für dieses Jahr über 7 Milliarden Euro für die materielle Unterstützung der ukrainischen Streitkräfte fest eingeplant und helfen der Ukraine langfristig mit dem Aufbau von Fähigkeiten. Wir sind zweitgrößter Unterstützer nach den USA, größter in Europa. Und wir arbeiten täglich dafür, dass diese Unterstützung nicht nachlässt.

Im Januar haben Sie gewarnt, Russland könnte in fünf bis acht Jahren ein Mitglied der NATO angreifen.

In der Tat sagen unsere Militärexperten, dass Russland in fünf bis acht Jahren in der Lage wäre, NATO-Territorium anzugreifen. Hinzu kommt, dass der Kreml die Rüstungsausgaben um 60 Prozent erhöht hat und Russland mit Drohgebärden gegenüber seinen Nachbarn, auch gegenüber NATO-Verbündeten, provoziert. All das müssen wir sehr ernst nehmen.

Das heißt konkret: Wir reformieren unsere Bundeswehr mit Hochdruck, und zwar so, dass sie vor allem für den Verteidigungsfall bestmöglich aufgestellt ist. Darum geht es in der Entscheidung zur Reform der Strukturen der Streitkräfte und des zivilen Bereichs, die in nur wenigen Monaten ausgearbeitet und von mir vergangene Woche entschieden wurde. Am Ende muss klar sein: Niemand darf auch nur auf die Idee kommen, uns oder unsere NATO-Verbündeten anzugreifen. Wir müssen Krieg führen können, um ihn nicht führen zu müssen. Das ist der Kerngedanke von Abschreckung. Dafür brauchen wir motivierte Männer und Frauen, die bereit sind, für die Sicherheit Deutschlands einzustehen. Wichtig ist, dass wir ausreichend finanzielle Mittel haben, um unseren Soldatinnen und Soldaten auch das nötige Material zur Verfügung stellen zu können.

Zwar hat das Sondervermögen sehr geholfen, wichtige Projekte anzustoßen und im Jahr 2024 nach vielen Jahren wieder einmal die NATO-Verpflichtungen einzuhalten. Tatsache ist aber, dass wir nach dem Ende des Kalten Krieges über drei Jahrzehnte zu wenig Geld in die Truppe investiert haben. Das hat zum einen große materielle Lücken gerissen, die wir jetzt füllen müssen. Zum anderen hat dies auch dazu geführt, dass die Rüstungsindustrie ihre Kapazitäten abgebaut hat und heute gar nicht mehr in der Lage ist, so viel und so schnell zu produzieren, wie es aufgrund der Bedrohungslage nötig wäre. Ja, Sicherheit wird uns in den kommenden Jahren viele Milliarden Euro kosten. Aber, wie Bundeskanzler Olaf Scholz sehr treffend auf den Punkt gebracht hat: „Ohne Sicherheit ist alles nichts.“

Boris
Pistorius

Wir müssen Krieg führen können, um ihn nicht führen zu müssen. Das ist der Kerngedanke der Abschreckung.

Ihre Aussage, Deutschland müsse „kriegstüchtig“ werden, hat für reichlich Diskussionen gesorgt. Reicht es nicht, „wehrhaft“ zu werden?

Nein, das reicht leider nicht. Wir müssen die Dinge beim Namen nennen, müssen auch ein Stück weit wachrütteln. Wir könnten uns zwar der Illusion hingeben, dass es bei der Bedrohung unserer Sicherheitslage nicht um eine potenzielle Kriegsgefahr ginge. Dann würden wir uns aber in die eigene Tasche lügen. Vereinfacht ausgedrückt spielt Putin lautstark mit dem Gedanken, Russland auf die Größe der ehemaligen Sowjetunion auszudehnen, natürlich mit militärischen Mitteln. Wir müssen ihm klarmachen: Denk erst gar nicht dran, uns oder NATO-Gebiet anzugreifen! Das gelingt uns nur, wenn Putin weiß, dass wir es ernst meinen, also dass wir kriegstüchtig sind, wenn er es darauf anlegen sollte.

Nach dem Ende des Kalten Kriegs wurde die Bundeswehr zur Interventionsarmee umgebaut. Geht die neue, notwendige Landesverteidigung zu Lasten der internationalen Kriseneinsätze?

Die Bundeswehr ist vielfältig im Einsatz und die Anforderungen werden in den kommenden Jahren zunehmen. Parallel zur stärkeren Ausrichtung auf Landes- und Bündnisverteidigung unterstützen unsere Soldatinnen und Soldaten die Ukraine, zum Beispiel bei der Ausbildung. Sie erfüllen zahlreiche internationale Aufgaben, um die NATO-Ostflanke zu schützen, zum Beispiel bei der Battlegroup in Litauen oder beim Air Policing in Lettland. Wir werden aber auch weiterhin beim Internationalen Krisenmanagement gebraucht – im Rahmen der Vereinten Nationen, der EU oder NATO. So ist unsere Marine derzeit mit der Fregatte „Hessen“ im Roten Meer im Einsatz, um die Freiheit der Seewege zu schützen. Gleichzeitig haben zwei Crews unserer Luftwaffe schon mehr als ein Dutzend Mal Hilfsgüter über Gaza abgesetzt, um die notleidende Bevölkerung mit Nahrung und Medikamenten zu versorgen.

Natürlich werden wir auch in diesem Jahr an internationalen Großübungen wie Quadriga oder Indo-Pacific Deployment teilnehmen, um die Kooperation mit den Streitkräften unserer Partner weiter zu verbessern. Sie sehen: Deutschland kann sich der Gleichzeitigkeit der vielen wichtigen Aufgaben nicht entziehen, wenn wir unsere Interessen international zum Ausdruck bringen wollen. Dafür braucht es im Übrigen ebenso sehr kluge Diplomatie und eine starke, ausreichend finanzierte Entwicklungszusammenarbeit. Nur mit diesem integrierten Ansatz werden wir Krisen auch wirklich nachhaltig bekämpfen können. Aber in diesem Ansatz brauchen wir eben auch militärische Mittel und insbesondere leistungsstarke, motivierte Soldatinnen und Soldaten.

Ist Verteidigung überhaupt national zu leisten oder braucht es nicht eher eine gemeinsame europäische Verteidigungspolitik, gar einen Verteidigungskommissar?

Die Herausforderung besteht vor allem darin, zu koordinieren, welcher EU-Mitgliedsstaat welche Aufgaben übernimmt – vor allem, wenn es um Rüstungspolitik geht. Wo sollen welche Waffen oder soll welche Munition produziert werden, damit die EU auf eine breite Palette an Material zurückgreifen kann? Wie können wir für eine Produktion von möglichst einheitlichen Systemen sorgen, sodass wir Interoperabilität gewährleisten können? Wie können wir unsere europäische Industrie am besten fördern, sodass sie langfristig ihre Produktionskapazitäten erhöht? Dafür braucht die EU aber keinen Verteidigungskommissar, der erst einmal für neue Strukturen und mehr Bürokratie sorgen würde. Sie braucht aber eine koordinierende Stelle, ein Gremium, das die Kompetenzen im Bereich Rüstung bündelt und für eine bessere Abstimmung sorgt.

Nach dem Fall der Mauer war schon vom „Ende der Geschichte“ die Rede. 2005 sah der frühere Bundespräsident Johannes Rau Deutschland „von Freunden umzingelt“. Wie konnten wir in eine Situation kommen, in der wir uns gegen Russland wappnen müssen? Was haben wir übersehen oder ignoriert?

Seit der russischen Vollinvasion in der Ukraine im Februar 2022 wissen wir: Putins Russland versteht nur die Sprache der Stärke. Dies zu akzeptieren ist uns in Deutschland schwergefallen. Wir haben selbst nach der Annexion der Krim noch lange auf Diplomatie gesetzt – in der Hoffnung, Russland im Minsker Prozess doch noch zur Vernunft zu bringen. Dabei haben wir auch die Warnungen unserer osteuropäischen Partner vor Putin nicht ernst genug genommen.

Erst mit der Zeitenwende, die Olaf Scholz vor mehr als zwei Jahren ausgerufen hat, ist klar geworden: Wir hatten uns etwas vorgemacht. Ich bin froh, dass wir heute den Tatsachen ins Auge sehen, dass wir die Bedrohungslage nun schonungslos analysieren und uns den Herausforderungen stellen.

Boris 
Pistorius

Militärische Stärke ist eine Voraussetzung für erfolgreiches Verhandeln.

Die SPD gilt als Friedenspartei. Sie sind Sozialdemokrat und Verteidigungsminister.

Gerade in Krisenzeiten braucht es einen klaren Kurs und Verlässlichkeit. Dazu zählt für mich eine optimal aufgestellte und ausreichend ausgestattete Bundeswehr. Und genau dafür setzen Olaf Scholz und ich uns gemeinsam ein, so wie dies andere SPD-geführte Regierungen unter Willy Brandt und Helmut Schmidt vor uns auch schon getan haben.

In welchem Verhältnis sollten Diplomatie und militärische Stärke stehen?

Das Verhältnis muss ausgewogen sein. Gerade für schwierige Gespräche, bei denen es auf diplomatisches Geschick ankommt, ist entscheidend, dass sich die Verhandlungspartner auf Augenhöhe begegnen und Respekt voreinander haben. Militärische Stärke gehört – zumal bei wirtschaftlich starken Staaten – dazu und ist eine Voraussetzung für erfolgreiches Verhandeln. Umgekehrt kann sich ein Land mit einer leistungsstarken Armee, aber ohne diplomatisches Geschick in allergrößte Schwierigkeiten bringen, die vielleicht hätten verhindert werden können.

Die SPD ist – per Parteitagsbeschluss von 2013 – gegen eine allgemeine Wehrpflicht. Sie haben sich immer wieder dafür ausgesprochen. Was versprechen Sie sich davon?

Mitte des Monats werden mir Vorschläge aus dem Haus auf den Tisch gelegt, die ich bis zum Sommer prüfen werde. Viele Fragen sind noch offen: Wie viele Schulabgänger könnten wir überhaupt pro Jahrgang in welchem Zeitraum als Wehrdienstleistende ausbilden? Welche rechtlichen Hürden gäbe es? Bei meiner Reise in die skandinavischen Länder habe ich durchaus festgestellt, dass es unterschiedliche Modelle und viele positive Erfahrungen damit gibt. Die Auswahl zum Wehrdienstleistenden wird häufig als besondere Auszeichnung verstanden. Wichtig ist mir, dass wir uns darüber klar werden: Sicherheit ist nichts, das wir delegieren können. Nach dem Motto: Ich zahle meine Steuern und dann kümmert sich irgendjemand automatisch um meine Sicherheit. Sicherheit kann nur dann gewährleistet werden, wenn es Frauen und Männer gibt, die bereit sind, sich dafür einzusetzen. Eine allgemeine Dienstpflicht oder die Wehrpflicht könnte dazu beitragen, dass wir wieder viel mehr über die Bundeswehr sprechen – und uns über ihre Bedeutung für den Erhalt der Freiheit und des Wohlstands im Klaren werden! Sie könnte auch einen Beitrag dazu leisten, dass wieder mehr junge Männer und Frauen den Wert der Kameradschaft erkennen und dabei auch die vielen Entwicklungsmöglichkeiten, die Hunderte Berufe bei der Bundeswehr bieten.

Dieses Interview wurde schriftlich geführt und erschien erstmals in der vorwärts-Ausgabe 2/2024.

Autor*in
Karin Nink und Kai Doering

sind Chefredakteurin und stellvertretender Chefredakteur des „vorwärts“.

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1 Kommentar

Gespeichert von Rudolf Isfort (nicht überprüft) am Sa., 11.05.2024 - 14:13

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Wer möchte nicht, dass der Equalizer, dass Rambo oder das A-Team für Recht, Moral oder „unsere“ Freiheit, „unsere“ Zivilisation kämpfen und sie „mit der Sprache der Stärke“ heilen, wenn vom Bösen verletzt? Das gibt es aber nur im Film. Ihre Erfolge und auch das große Vertrauen in die heilsame „Sprache der (militärischen) Stärke“, bei unseren Wortgewaltigen wie auch bei uns weniger am öffentlichen Diskurs Beteiligten, zeigen aber die tiefe Sehnsucht der Menschen nach dem machtvollen „Basta“ durch militärische Stärke – vorausgesetzt, wir, die Guten, sprechen es.

Einer der markantesten Sätze über den Angriffskrieg auf die Ukraine, den Pistorius so gut beherrscht wie alle unsere Wortgewaltigen, lautet: „Putins Russland versteht nur die Sprache der Stärke“. (Meistens wird „Russland“ noch ausgespart.) Dabei zeigt der Ukraine-Krieg, dass er völlig falsch ist. Um es mit Adam Tooze, Historiker, und damit mit den Worten der Analyse und nicht mit denen der populistischen Vereinfachung oder der Straßenbanden-Logik zu sagen: „Wenn das Ziel der Nato darin bestanden hat, die russische Aggression abzuschrecken und den Frieden in Europa zu bewahren, so ist sie gescheitert“ (Blätter ... 8(2022)67). Auch die Verursacher des Gaza-Kriegs haben die Sprache der Macht nicht gehört. Und Frau Deitelhoff, uns allen von TV-Talks als Befürworterin eines herbeigebombten Friedens im Ukraine-Krieg bekannt, gibt zu bedenken, dass „die Erfahrungen zeigen, dass die ausschließliche Ausrichtung an Abschreckung keine belastbare Grundlage für Stabilität ist“ (Blätter ..., 6(2022)67). Die Zeiten der „Kanonenboot-Politik“ sind vorbei.
Und die Vorstellung von Pistorius, ihm von Nink und Doering unterstellt,) „militärische Stärke ist eine Voraussetzung für erfolgreiches Verhandeln“, wird sogleich als Unsinn erkannt, wenn man an Verhandlungen mit Brasilien, Indien oder gar China – selbst Russland, Mali oder Burundi - denkt.
(Was passiert eigentlich, wenn "Putins Russland" diesen Satz als Leitidee für sich nimmt, die beiden ersten Wörter aber durch "Nato, EU" ersetzt?)

Aber vielleicht legt Pistorius ja den Fokus auf „Putins Russland“, weniger auf „die Sprache der Stärke“. Würde man die Kriege seit 2000, soweit sie im „strategischen Umfeld“ Europas ausgetragen wurden, daraufhin untersuchen, wer an ihnen am häufigsten (und z. T. auch ursächlich) beteiligt gewesen ist, würde man – vermutlich – die Russische Föderation nicht auf die erste Stelle setzen können. Und auch das zeigen die angedeuteten Kriege: Alle Kriege der letzten 25 Jahre, soweit sie bereits beendet sind, von Afghanistan bis Libyen, waren für den Westen, für die Nato, für uns nicht sonderlich erfolgreich - vorsichtig formuliert.

„Putins Russland versteht nur die Sprache der Stärke“ ist ein Satz, dem wir glauben können, nicht müssen - nicht einmal sollten; sehr wohl aber sollte wir mal versuchen herauszubekommen, aufgrund welchen Interesses er immer wieder behauptet wird.