Europawahlkampf in Trier: „Warum soll ich wählen gehen, Kevin?“
Knapp sieben Wochen sind es noch bis zur Europawahl. Und diesmal sind so viele Erstwähler*innen wie nie zuvor zugelassen. Um sie wirbt SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert in Trier daher besonders.
Marius Reuter
Kevin Kühnert bei einer SPD-Veranstaltung in Trier am Samstagabend.
Die Heimat der SPD-Spitzenkandidatin Katarina Barley ist hier. Luxemburg, die Heimat von Nicolas Schmit, dem europaweiten Spitzenkandidaten der Sozialdemokratie zudem nicht einmal 50 Kilometer entfernt. Wo könnte die Europawahl präsenter sein als in Trier? Der Stadt, die von sich behauptet, die älteste Deutschlands zu sein. Mit Blick auf die Porta Nigra, das gut erhaltene Stadttor, mag man das kaum bezweifeln.
Sieben Wochen und ein Tag sind es noch bis zum 9. Juni, wie SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert an diesem Abend vorrechnet. Der Regen hat sich verzogen, im Sonnenschein genießen dutzende Menschen rund um den Marktplatz den Wein eines lokalen Winzers. Nur wenige hundert Meter entfernt sagt ein junger Mann: „So voll war es hier noch nie.“
Heimspiel trotz drohender Bio-Klippe
Schon eine halbe Stunde vor 19 Uhr ist im „Simplicissimus“, von den Trierern liebevoll „Simpel“ genannt, kaum noch ein Platz zu bekommen. Junge Menschen nippen gespannt an ihrem Bier, schauen immer wieder gespannt Richtung Eingangstür. An abgegriffenen Holztischen prangen Aufkleber mit Slogans wie „Bumsbar“ oder „Fummel mich“. „Jojo“, der Wirt, ist Sozialdemokrat. Später am Abend soll hier noch ein von der SPD organisiertes „Tuntenbingo“ steigen. Doch zunächst heißt es: „Kommunalwahl, Europawahl, warum soll ich wählen gehen, Kevin?“
Juso-Vorsitzender ist Kühnert schon einige Jahre nicht mehr. In wenigen Monaten wartet die in SPD-Kreisen berüchtigte „Bio-Klippe“ auch auf ihn. Dann ist er zu alt für die Jungsozialist*innen. Und doch ist es an diesem Abend ein Heimspiel für ihn. Entspannt steht er mit Soft-Shell-Jacke, Rucksack und Bier vor der Kneipe. Als er hineinkommt, nickt er den Menschen an den Tischen wissend zu. Der Landtagsabgeordnete und Trierer SPD-Vorsitzende Sven Teuber verspricht ihm eine „lauschige, sozialdemokratische, heimelige Atmosphäre“ an diesem Abend.
BMW als Lebensthema
Als er von der Trierer Juso-Vorsitzenden Hasmik Garanian auf seine Aussagen über BMW von vor fünf Jahren angesprochen wird, sagt er: „In meinem Kopf hat sich nichts verändert.“ Er empfinde es immer noch als „himmelschreiende Ungerechtigkeit“, dass man in Deutschland ein Milliardenvermögen mit einem Prozentsatz von drei bis vier Prozent vererben könne. „Das ist ein Skandal, über den ich nicht aufhören werde, zu sprechen.“ Insofern werde BMW immer mehr zu einem Lebensthema für ihn.
Gleichwohl gebe es eine bestimmte Erwartungshaltung an Ämter, sagt Kühnert. Als SPD-Generalsekretär spricht er routiniert über die Bundespolitik, über die Absurdität von Christian Lindners Forderung nach mehr Überstunden und dass man bei Friedrich Merz‘ Aussagen in der Tagesschau nie wisse, ob es eine aktuelle Sendung oder eine von vor 20 Jahren sei. So wenig habe sich an den Ansichten des Konservativen geändert.
Kühnert: „Eine große gemeinsame Demokratieabstimmung“
Und dann kommt Kühnert auf den 9. Juni zu sprechen. Der SPD-Generalsekretär erwartet eine „große gemeinsame Demokratieabstimmung“. In Rheinland-Pfalz können die Menschen an diesem Tag nicht nur ihre Stimme für das Europaparlament abgeben, sondern auch über die künftige Besetzung der kommunalen Parlamente entscheiden. „Beide Wahlen teilen in der Regel ein ungerechtes Schicksal: die niedrigsten Wahlbeteiligungen“, sagt Kühnert und macht deutlich, warum es insbesondere mit Blick auf die Europawahl in diesem Jahr besonders wichtig werde, das zu ändern: „Es geht um die Demokratie. Das gilt noch ein bisschen mehr als sonst.“ Denn es bleibe nur noch das Europaparlament, um zu verhindern, dass die Le Pens, Melonis und Weidels ihre Vorstellungen von der EU vollständig umsetzen könnten.
Deswegen richtet Kühnert seine Hoffnungen insbesondere auch auf die Erstwähler*innen. „Es betrifft sie am allermeisten, weil sie noch am längsten mit den Auswirkungen dessen zu tun haben werden, was jetzt beschlossen wird – positiv wie negativ“, sagt er. Und sie sind so viele wie nie zuvor. Für sieben Jahrgänge, mehr als fünf Millionen Menschen in Deutschland, wird es die erste Europawahl sein. Denn in diesem Jahr sind zum ersten Mal auch 16- und 17-Jährige wahlberechtigt. Anders übrigens als auf kommunaler Ebene in Rheinland-Pfalz, wo die CDU eine entsprechende Änderung blockiere, wie Sven Teuber erläutert. „Ich bin in Niedersachsen aufgewachsen und habe damals als einer der ersten vom Wahlrecht mit 16 profitiert. Mir hat es nicht geschadet“, fügt er an.
Europa greifbar machen
Fiona Krenz ist bei der Europawahl Erstwählerin. Die 17-Jährige ist Präsidentin des Jugendparlaments in Trier. Sie berichtet von einer Klassenkameradin ihres Bruders, die gesagt habe, was Europa sie denn angehe. An Kühnert richtet Krenz daher die Frage: „Wie schmeiße ich dieser Person Europa so vor die Füße, dass sie es nicht ignorieren kann?“ Der SPD-Politiker empfiehlt, möglichst plastisch über die Folgen zu sprechen, was unter dem Einfluss rechter Parteien in Europa passieren könne. Er wählt das Beispiel der PiS-Regierung in Polen, die das Abtreibungsrecht dermaßen eingeschränkt hat, dass dadurch Frauen gestorben sind.
„Solche Beispiele muss man verwenden, wenn man aufrütteln will. Denn es ist ein großer Luxus, zu glauben, europäische Politik würde einen nichts angehen“, sagt Kühnert. Das zeige eher die großen Erfolge der EU wie die Abschaffung von Roaming-Gebühren oder die Reisefreiheit. Auf die zielt auch die Frage von Nils Thiel ab. Er ist ebenfalls Erstwähler, hat wenige hundert Meter entfernt an einem Gymnasium gerade sein Abitur gemacht. Als er das erwähnt, brandet dafür Szenenapplaus auf. Er freut sich, dem SPD-Generalsekretär eine Frage stellen zu dürfen, und will von ihm wissen, welche Möglichkeiten Europa ihm nach dem Abitur nun bietet.
Kühnert bleibt zum Tunten-Bingo
Kühnert erwähnt das Interrail-Ticket, Austauschprogramme und grenzüberschreitenden Nahverkehr, sagt aber auch: „Es geht immer auch um die sozialen und ökonomischen Grundlagen des Zusammenlebens.“ Das habe die Brexit-Abstimmung gezeigt. Deswegen mache sich die SPD für eine europäische Jugendgarantie stark. Außerdem brauche es eine Richtlinie, dass Praktika vergütet würden. Dann scharren schon Camilla Camouflage und Lülü Laurence für das eingangs erwähnte Tuntenbingo mit ihren Stöckelschuhen. „Kevin, du bleibst doch noch ein bisschen bei uns, oder?“, flötet die eine. „Na klar“, antwortet Kühnert und grinst breit.
ist Redakteur des „vorwärts“. Er hat Politikwissenschaft studiert und twittert gelegentlich unter @JonasJjo
Kevin Kühnert in Trier
Ich freue mich, dass unser Generalsekretär Kevin Kühnert die älteste Stadt Deutschlands, die nicht nur meine Geburtsstadt, sondern auch die des großen Philosophen Karl Marx ist, besucht hat.
Zu beachten ist, dass Trier nahe an den Grenzen zu Luxemburg, Frankreich und Belgien ist, damit also im Zentrum Europas liegt, womit die Europawahl für diese Stadt eine besondere Bedeutung hat. Natürlich sind mir die derzeit dort arbeitenden Genossinnen und Genossen nicht mehr bekannt, da es rd. 50 Jahre her sind, als ich dort Unterbezirksvorsitzender der Jungsozialisten war.
Zu Beginn meiner Amtszeit fand eine Veranstaltung mit der damaligen Juso-Vorsitzenden Heidemarie Wieczorek-Zeul in Trier statt; später hatte ich Prominente wie Ottmar Schreiner und Klaus von Dohnany zu Gast.
Meinen Bezug zu Europa habe ich trotz Umzugs ins Schwabenland nicht verloren, vielmehr reise ich immer noch gerne gerade in die westlichen Nachbarländer und habe im Jahre 2016 ein Buch "Ist Europa gescheitert?" geschrieben.
Ich hoffe, dass unsere Spitzenkandidaten Katarina Barleyund Nicolas Schmit gerade auch dort einen großen Gewinn am 09. Juni einfahren werden!
„Tuntenbingo“
Wenn jemand „dieser Person“ etwas nachsagt, anbietet oder abschlägt, kann sie keine sonderlich gute Meinung von der „Klassenkameradin ihres Bruders“ haben. Infolgedessen wird sie ihr etwas „vor die Füße schmeißen“ oder, alternativ, „an den Kopf schmeißen“, „hinschmeißen“ oder „in die Ecke schmeißen“ – so wie Linken-Fraktionschefin Henning-Wellsow dem mit den Stimmen der AfD zum Ministerpräsidenten von Thüringen gewählten Thomas Kemmerich 2020 Blumen vor die Füße geworfen hat, oder, noch weiter zurück, wie ehemals Fehdehandschuhe vor des Gegners Füße geworfen wurden. Vielleicht aber ist ja auch das Angebotene so unansehnlich, abstoßend oder wertlos, dass es gar nicht freundlich übergeben, sondern nur achtlos hingeschmissen werden sollte.
Immerhin reflektiert sie über beides, wenn sie sich fragt, „wie schmeiße ich dieser Person Europa so vor die Füße, dass sie es nicht ignorieren kann?“ Allerdings „Europa vor die Füße schmeißen“, ist schon speziell. Aber vielleicht sprechen „Camilla Camouflage“ und „Lülü Laurence“ während der „Tuntenbingo“ in der „Bumsbar“ oder bei „Fummel mich“ genau so.
Wenn „es um die Demokratie geht“ sind auch Nischen wichtig.
Europa
Zur Ergänzung meines obigen Kommentars: Während meiner Zeit als Juso-Vorsitzender im damaligen Unterbezirk Trier pflegten wir regen Kontakt zu den Luxemburger Jusos und besuchten unsregelmäßig bei Konferenzen.
Eine Veranstaltung fand im luxemburgischen Remerschen, wo ein Atomkraftwerk geplant war, statt, bei der luxemburgische, französische, saarländische und Jusos aus dem UB Trier statt. Das AKW konnte verhindert werden. Jedoch bauten die Franzosen weniger Kilometer weiter moselaufwärts das stets störanfällige AKW Cattenom.
Einen wichtigen Beitrag bei der Diskussion leistete der damalige Bürgermeister von Remerschen, indem er auf die Übersetzung des Wortes "Minister" = "Diener" hinwies und dabei die Frage stellte, wessen Diener manche Minister in Wirklichkeit sind. Diese Frage ist aktueller denn je, wenn man z.B. an bestimmte Minister in unserer Bundesregierung denkt.