Geschichte

Wie der Atom-Ausstieg zum festen Bestandteil deutscher Energiepolitik wurde

Im Juni 2000 gelingt der rot-grünen Bundesregierung nach zähen Verhandlungen mit den AKW-Betreibern eine Vereinbarung über den Atomausstieg. Der Atomkonsens wird zum Wendepunkt in der deutschen Energiepolitik.

von Thomas Horsmann · 13. Juni 2025
Kühltürme des – 2024 gesprengten – Atomkraftwerks Grafenrheinfeld hinter einem Kirchturm

Kühltürme des – 2024 gesprengten – Atomkraftwerks Grafenrheinfeld in Bayern: Der Atomkonsens markiert das Ende eines jahrzehntelangen Konflikts um die deutsche Atompolitik.

Die Vereinbarung datiert auf den 14. Juni 2000. Doch erst am frühen Morgen des 15. Juni tritt Bundeskanzler Gerhard Schröder vor die Presse. Zufrieden verkündet er den Anfang vom Ende der Atomkraft in Deutschland – ein zentrales Projekt der rot-grünen Koalition, die seit 1998 regiert.

Der Atomausstieg – ein „vernünftiger Kompromiss“

Der Durchbruch gelingt am 14. Juni nach stundenlangen, zähen Verhandlungen im Bundeskanzleramt. Schröder, Wirtschaftsminister Werner Müller (parteilos) und Umweltminister Jürgen Trittin (Grüne) erzielen mit den Chefs der Energiekonzerne RWE, Viag, Veba und EnBW einen Kompromiss: die „Vereinbarung zur geordneten Beendigung der Kernenergie“. 

Demnach sollen die 19 deutschen Atomkraftwerke nach durchschnittlich 32 Betriebsjahren abgeschaltet werden. „Ich gehe also davon aus, dass damit sowohl ein lange währender gesellschaftlicher Konflikt gelöst werden kann als auch ein Beitrag zu einer vernünftigen, zukunftsgerichteten, ungefährlichen Form der Stromproduktion in Deutschland geleistet worden ist“, erklärt Schröder. „Wir haben uns nicht zusammengerauft, sondern gefunden“, betont er.

Die Einigung sei wirtschafts- und gesellschaftspolitisch ein „vernünftiger Kompromiss“, auch wenn die Laufzeiten länger seien, als Rot-Grün eigentlich wollte. Das löst Kritik in den eigenen Reihen aus. Schließlich gelingt es, die Kritiker in der SPD und besonders bei den Grünen vom gefundenen Kompromiss zu überzeugen.

Ende eines jahrzehntelangen Konflikts

Der Konflikt um die Kernenergie prägt die deutsche Innenpolitik seit den 1970er Jahren. Mit dem Aufstieg der Anti-Atomkraft-Bewegung – getragen von Umweltschützer*innen, Bürgerinitiativen und bald auch den Grünen – wird die Frage immer drängender. Die Katastrophen von Harrisburg (1979) und Tschernobyl (1986) erschüttern das Vertrauen in die Sicherheit der Technologie. Während die SPD nach Tschernobyl den Atomausstieg fordert, setzt die Union weiterhin auf die Nutzung der Kernkraft. 

Erst mit der rot-grünen Bundesregierung wird der Ausstieg zur Regierungslinie. Schröder, als Pragmatiker, bremst Trittins radikale Forderungen, etwa das Verbot der Wiederaufarbeitung abgebrannter Brennelemente im Ausland. Der Kanzler fürchtet milliardenschwere Klagen. Statt auf einseitige Schritte setzt Schröder auf Verhandlungen mit der Industrie.

Schröder macht den Atomkonsens zur Chefsache

Der Kanzler macht den Atomkonsens zur Chefsache – auch, um den Koalitionsstreit zu entschärfen und den gesellschaftlichen Frieden zu sichern. Die Unternehmen warnen vor Arbeitsplatzverlusten und Investitionsrisiken, doch die Regierung hält Kurs: Die Energiewende wird als strategische Notwendigkeit begriffen. 

Das Abkommen sieht vor, jedem Reaktor eine feste Reststrommenge zuzuweisen. Ist sie erreicht, wird das Kraftwerk abgeschaltet. Im Gegenzug verzichtet die Regierung auf gesetzliche Zwangsschließungen – ein Zugeständnis, um langwierige Gerichtsverfahren zu vermeiden. Neubauten sind ausgeschlossen. Mit dem Atomgesetz von 2002 wird die Vereinbarung rechtlich verankert.

Fukushima führt zum endgültigen Atomausstieg

Der erste Reaktor geht 2003 vom Netz, der letzte im Jahr 2023. Parallel dazu wird der Ausbau der Erneuerbaren Energien konsequent vorangetrieben. Deutschland etabliert sich international als Vorreiter in der Klimaschutzpolitik. Doch 2010 bremst die schwarz-gelbe Bundesregierung unter Angela Merkel die Entwicklung aus und verlängert die Laufzeiten erneut – ein Rückschlag für die Anti-Atom-Bewegung.

Erst die Katastrophe im japanischen Fukushima 2011 führt zur endgültigen Rückkehr zum Atomausstieg. Damit bestätigt sich, was 2000 als riskanter politischer Kompromiss begann: Der Ausstieg wird zum festen Bestandteil deutscher Energiepolitik.

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