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Reinhard Ueberhorst: Energiepolitik und Demokratie als Lebensthemen

Dass sich die SPD sich auf ihrem Parteitag 1986 von der Atomenergie verabschiedete, lag nicht zuletzt an Reinhard Ueberhorst. Auch später ließen die Themen Energie und Demokratie den SPD-Politiker nicht los. Nun wird er 75.
von Reinhard Loske · 24. April 2023
Für Pinneberg im Parlament: Reinhard Ueberhorst im Bundestag im März 1979
Für Pinneberg im Parlament: Reinhard Ueberhorst im Bundestag im März 1979

Dass sich die Sozialdemokratie in Deutschland mit ihren Intellektuellen manchmal schwertut, ist eine altbekannte und vielbeklagte Tatsache. Von Erhard Eppler über Peter Glotz bis zu Hermann Scheer haftete vielen ihrer Vordenker zu deren aktiven Zeiten eher das Stigma des Querulantentums, des Moralismus oder der mangelhaften Parteidisziplin an. Erst mit dem Ausscheiden aus der Tagespolitik oder dem (wie bei Glotz und Scheer) viel zu frühen Tod wuchs der Stolz der Partei auf ihre geistigen Unruhestifter.

Mit 28 in den Bundestag

Bei Reinhard Ueberhorst, der am 24. April dieses Jahres 75 Jahre alt wird, liegen die Dinge ähnlich, wenn auch im Detail anders. Ueberhorst, der seiner Heimatstadt Elmshorn zeitlebens treu blieb, ging nach einem erfolgreichen Studium der Rechts- und Politikwissenschaften in Hamburg und Amsterdam sowie einer kurzen Karriere in der Zukunftsforschung und Bildungsberatung schon in jungen Jahren in die Politik. 1976 wurde er, auch gefördert vom SPD-Linken und schleswig-holsteinischen Landesvorsitzenden Jochen Steffen, im Alter von nur 28 Jahren für den Wahlkreis Pinneberg in den Deutschen Bundestag gewählt. Dort fiel früh das Augenmerk von Willy Brandt, Helmut Schmidt und vor allem Herbert Wehner auf das Jungtalent Ueberhorst.

Doch statt eines nur vordergründig einflussreichen Fraktions- oder Staatssekretärspostens wies Wehner ihm die Aufgabe zu, den Vorsitz der Bundestags-Enquete „Zukünftige Kernenergie-Politik“ zu übernehmen. Der Vorsitz in dieser Enquete-Kommission, die stilbildend für alle folgenden Enquete-Kommissionen des Bundestags werden sollte und in der erstmals konsequent in Szenarien argumentiert wurde, war Ueberhorst auf den Leib geschneidert. Hier konnte er seine beiden Lebensthemen, Energiepolitik und Diskurs, Kernenergiekritik und Demokratie, gut zusammenführen.

Dass er dabei mit knallharten Atomenergiebefürwortern wie dem „Brüterpapst“ Wolf Häfele ebenso faktenbasiert und ergebnisorientiert kooperieren konnte wie mit dem Naturphilosophen Klaus-Michael Meyer-Abich, mit dem ihn später eine innige Freundschaft verband, ist in unseren polarisierten Zeiten für viele kaum mehr vorstellbar. Stets pochte Ueberhorst in seiner  Enquete-Kommission darauf, dass „diskursiv und nicht nur positional“ argumentiert werde. Mit bloßen Meinungen oder Stimmungen kam bei ihm niemand durch. An dieses Prinzip hält er sich – zum Unmut mancher – bis heute konsequent. Daran, dass die SPD sich auf ihrem Nürnberger Parteitag 1986 von der Atomenergie verabschiedete, hatte Ueberhorst gemeinsam mit seinen (nicht nur) politischen Freunden Erhard Eppler, Hermann Scheer und Volker Hauff keinen kleinen Anteil.

Senator für Gesundheit und Umweltschutz in Berlin

Den Bundestag allerdings hatte Ueberhorst bereits 1981 verlassen, zu früh, wie sich später herausstellen sollte, jedenfalls aus klassischer Karriereperspektive. Hans-Jochen Vogel, in Folge einer Senatskrise als Regierender Bürgermeister in Berlin Anfang 1981 „eingesprungen“, setzte auf Kompetenzimport und machte Ueberhorst zum Senator für Gesundheit und Umweltschutz. Doch das Regierungsamt wurde für beide Politiker zum kurzen Intermezzo. Schon ein halbes Jahr später kam der SPD bei den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus die sozial-liberale Mehrheit abhanden und Richard von Weizsäcker löste Vogel als Regierenden Bürgermeister ab.

Zwar blieb der Freigeist Ueberhorst noch bis 1985 Mitglied im Berliner Abgeordnetenhaus und wurde von Oskar Lafontaine 1985 zur Landtagswahl im Saarland in dessen Wahlkampfmannschaft aufgenommen, aber richtig warm wurde der Elmshorner mit der Parteipolitik nicht mehr, wozu auch erhebliche Meinungsverschiedenheiten mit Oskar Lafontaine beitrugen. Der frisch gewählte Ministerpräsident jedenfalls berief Ueberhorst, der eigentlich als Wirtschaftsminister vorgesehen war, nicht ins Landeskabinett.

Darüber, ob es später Rufe oder gar Angebote aus der SPD für diese oder jene Funktion gab, redet Ueberhorst bis heute selbst bei einem Glas Wein nicht gern. Auch auf die Frage, ob das schnelle Verlassen des Bundestages vielleicht ein Fehler war, erhält man von ihm keine wirkliche Antwort. Man darf aber annehmen: Wer das Prinzip „No risk, no fun“ so verinnerlicht hat wie Ueberhorst, dem ist Larmoyanz über die Ungerechtigkeit der „Umstände“ wohl ziemlich fremd.

Eine zweite Karriere als Diskurspfleger

Jedenfalls begann mit dem Ende des Senatorenamtes und dem Ausstieg aus der Parteipolitik die zweite Karriere des Diskurspflegers Reinhard Ueberhorst.

Er gründete 1981 in Elmshorn das „Beratungsbüro für diskursive Projektarbeiten und Planungsstudien“ und beriet fortan in den Themenfeldern Energiepolitik, Krankenhausplanung, Seeverkehrswirtschaft, Atommüllpolitik, Chemikalienpolitik und Beteiligungsverfahren unterschiedlichste Akteure aus Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Zivilgesellschaft, vom Bundeswirtschaftsministerium (unter Jürgen Möllemann!) über Stadtverwaltungen bis zu Anti-AKW-Initiativen. Parallel zu seiner unternehmerischen Arbeit hat Ueberhorst stets das Forschen, Schreiben und Lehren gepflegt, wodurch lesenswerte Bücher wie „Creative Democracy“ (mit Tom R. Burns), fundierte Essays wie „Gesellschaftliche Politikfähigkeit und diskursive Politik“ oder öffentliche Begegnungsorte wie das „Forum für Politik und Wirtschaft“ an der Elmshorner Nordakademie entstanden sind.

Die Liebe zum Diskurs pflegt der Homo politicus und Citoyen Reinhard Ueberhorst aber auch und sogar besonders im persönlichen Umfeld. Seit nunmehr vierzig Jahren lädt er mehrmals jährlich interessante und interessierte Zeitgenossinnen und -genossen unter dem bescheidenen Titel „Elmshorner Gesprächsabende“ in sein Beratungsbüro ein, um aktuelle und grundsätzliche gesellschaftliche Fragen zu besprechen und das Anregungspotential literarischer Texte zu erkunden. Für die Eingeladenen gilt allerdings: Wer mitdiskutieren will, muss vorher gelesen haben. Kontroverse Positionen sind ausdrücklich erwünscht, aber nachvollziehbar zu begründen.

Der SPD immer treu geblieben

Die Liste der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, Rednerinnen und Redner der vergangenen vierzig Jahre ist erklecklich und enthält viele bekannte Namen, ohne dass Ueberhorst jemals damit kokettiert hätte. Freilich gibt es stets im Nachgang zu den „Elmshorner Gesprächen“ eine umfassende Dokumentation und gelegentlich auch eine ausgiebige Berichterstattung in der Elmshorner Lokalzeitung. So funktioniert demokratische Öffentlichkeit.

Überhaupt, das Lokale und Regionale scheint Ueberhorst ebenso zu faszinieren wie das Nationale, Europäische oder Globale. In einer seiner jüngsten Veröffentlichungen schreibt er „Über die Aktualität von Jochen Steffen im 21. Jahrhundert“. Steffen trat 1980 nach drei Jahrzehnten Mitgliedschaft und zahlreichen Ämtern aus der SPD aus. Ueberhorst ist der Partei trotz seiner zeitweise sehr großen Distanz zu ihr bis heute treu geblieben, über ein halbes Jahrhundert lang. Ob die SPD die Ideen dieses intellektuellen und zugleich praktisch orientierten Diskurspflegers als Teil ihres Traditionsbestandes oder gar als Zukunftsaufgabe sieht? Man wünschte es sich.

Autor*in
Reinhard Loske

war Bundestagsabgeordneter für Bündnis 90/Die Grünen, Senator für Umwelt, Bau, Verkehr und Europa der Freien Hansestadt Bremen und Professor für Nachhaltigkeit und Transformationsdynamik an der Universität Witten/Herdecke. Heute ist er Mitglied im Vorstand der Stockholmer Right Livelihood Foundation und Senior Associate Fellow der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik

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