Rudolf Breitscheid: Wie der SPD-Außenpolitiker zu Hitlers Zielscheibe wurde
Als Radikaldemokrat und Pazifist positionierte sich Rudolf Breitscheid klar gegen die Kriegskredite im Ersten Weltkrieg. In der Weimarer Republik trieb er die deutsch-französische Annäherung voran. Seine Überzeugungen machten Breitscheid zum idealen Ziel der Nazis.
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In bester Gesellschaft: Rudolf Breitscheid (r.) im April 1930 mit Albert Einstein (l.) und dem früheren Finanzminister Peter Reinhold in Berlin
Zur Jahreswende 1940/1941 sitzen zwei ältere Herren in einem Hotel im südfranzösischen Arles und warten. Seit die Nazi-Armeen Frankreich überfallen haben, drängt die Zeit zur Flucht. Die beiden Herren wollen nicht über Spanien nach Lissabon fliehen, aus Angst vor einer möglichen Auslieferung. Sie warten und hoffen auf ein Ausreisevisum. Dann erhalten die beiden Herren — wider Erwarten —Ausreisevisa, die jedoch nach wenigen Tagen zurückgerufen werden.
In der Nacht vom 8. auf den 9. Februar 1941 werden die beiden verhaftet, nach Vichy verbracht und von dort aus an die Gestapo ausgeliefert: Der eine, der ehemalige deutsche Finanzminister Rudolf Hilferding, wird nach Paris gebracht und dort am 11. Februar 1941 zu Tode gefoltert. Der andere, der letzte Vorsitzende der SPD-Reichstagsfraktion Rudolf Breitscheid, wird mit seiner Frau Tony nach Deutschland verschleppt, wo auf beide langjährige Gestapo- und KZ-Haft wartet.
„Mit einer gepflegten Begabung zum kühlen sarkastischen Hohn“
Mit der Überstellung Rudolf Breitscheids ist den Nazis ein Coup gelungen. Er ist der prominenteste Sozialdemokrat, dessen sie habhaft werden können, und er steht für Werte, die der Nazi-Ideologie diametral entgegen stehen: Liberalität, soziale Gerechtigkeit, Weltoffenheit und Völkerverständigung. Diese Werte haben auch seinen politischen Werdegang bestimmt. Breitscheid wird am 2. November 1874 in Köln geboren, studiert nach dem Abitur in München und Marburg Nationalökonomie und wird 1898 promoviert. Anschließend arbeitet er als Redakteur für verschiedene liberale Zeitungen in Hamburg und Hannover.
Rudolf Breitscheids politische Karriere beginnt 1903 mit dem Beitritt zur linksliberalen „Freisinnigen Vereinigung“. 1904 wird er in den preußischen Provinziallandtag gewählt, dem er für verschiedene Parteien bis 1920 angehören wird. Beruflich arbeitet er als Lobbyist für den „Handelsvertragsverein“ in Berlin. Aus Protest gegen die zunehmende konservative Orientierung seiner Partei gründet Breitscheid 1908 mit Gleichgesinnten die „Demokratische Vereinigung“, deren Vorsitz er übernimmt.
Der nachmalige erste Bundespräsident Theodor Heuss beschreibt in seinen Erinnerungen die herausragende Fähigkeit Rudolf Breitscheids: „Der überschlanke Mann war eine höchst eindrucksvolle Erscheinung, als Redner bewundert und gefürchtet, sich nie verhaspelnd, Satz für Satz druckfertig, völlig rational argumentierend, mit einer gepflegten Begabung zum kühlen sarkastischen Hohn.“
Radikaldemokrat und Pazifist
Da die „Demokratische Vereinigung“ parlamentarisch erfolglos ist, schließt sich der Radikaldemokrat Rudolf Breitscheid 1912 der SPD an. Die Bewilligung der Kriegskredite, die seine neue Partei im August 1914 mit den wilhelminischen Machthabern eingeht, macht der Bewunderer des großen französischen Sozialisten Jean Jaurès nicht mit. Ab 1915 wird Rudolf Breitscheid Chefredakteur der pazifistischen Pressekorrespondenz „Sozialistische Auslandspolitik“. Für den entschiedenen Pazifisten ist 1917 der Übertritt in die USPD unausweichlich.
Kurzzeitig bekleidet Rudolf Breitscheid nach der Novemberrevolution von 1918 bis zum 4. Januar 1919 das Amt des Preußischen Innenministers.1920 zieht der „eloquente, ehrgeizige und eitle“ Rudolf Breitscheid für die USPD in den Reichstag ein. Nach wie vor verhält er sich der Mehrheits-Sozialdemokratie gegenüber unversöhnlich. Lieber sieht er „um der Mehrheit willen“ eine bürgerliche Regierung im Amt als eine, die hinter sozialdemokratischer Fassade bürgerliche Politik betreibt.
Treiber für die deutsch-französische Annäherung
Dennoch bleibt Rudolf Breitscheid innerlich ein Anhänger der sozialdemokratischen Einheit. Das Zusammengehen großer Teile der USPD mit der KPD und den Anschluss an die „Kommunistische Internationale“ will er nicht mittragen. 1922 ist für Rudolf Breitscheid daher die Rückkehr mit der Rest-USPD zur SPD folgerichtig. In der neuen, nunmehr gemeinsamen Reichstagsfraktion avanciert Breitscheid zum außenpolitischen Sprecher und zum Mitglied im Außenpolitischen Ausschuss des Reichstages.
Gemeinsam mit Gustav Stresemann treibt Rudolf Breitscheid die deutsch-französische Annäherung voran und erklärt die Verständigung mit dem westlichen Nachbarn zur „Lebensfrage für uns, (…) für Europa und für die Welt.“ Damit markiert Breitscheid die beginnende Westorientierung der SPD. Als Mitglied der Kommission des Völkerbundes ab 1926 sieht er die internationale Vereinigung als „Kollegium von kapitalistischen Regierungen“, die dringend durch den Einfluss sozialistischer Parteien zu einem „wahren Völkerbund“ ausgebaut werden müsse.
Tragisch-ironisches Ende im KZ Buchenwald
Im Juni 1928 wird Rudolf Breitscheid gemeinsam mit Wilhelm Dittmann und Otto Wels zum Vorsitzenden der SPD-Reichstagsfraktion gewählt. Längst zum Realpolitiker gewandelt, unterstützt Breitscheid vehement die letzte sozialdemokratisch geführte Regierung unter Hermann Müller. Nach deren Scheitern und der Bildung der „Notverordnungsregierung“ unter Heinrich Brüning, erklärt Breitscheid im Reichstag: „Parteipolitisch ist uns die Opposition zu jeder Zeit ausgezeichnet bekommen.“
Da täuscht er sich gewaltig. Nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten gehört er im März 1933 zu den ersten Sozialdemokrat*innen, die flüchten müssen. Breitscheid bezeichnet sich selbst einem Freund gegenüber als „zu abgekämpft“, um in Deutschland bleiben zu können. Ins Exil nach Frankreich nimmt er seine Misserfolge und Enttäuschungen mit, nur um Vergleichbares dort wieder zu erleben. Breitscheids Bemühungen um eine „Volksfront“ gegen Hitler scheitern an der ideologischen Starrköpfigkeit Stalins.
Das Leben des ausgebürgerten Rudolf Breitscheid endet tragisch-ironisch in Deutschland. Er stirbt nach einem alliierten Bombenangriff auf ein Nebenlager des KZ Buchenwald am 24. August 1944.