Geschichte

Johanna Kirchner: Die Flüchtlingshelferin

Als die Nazis im Mai 1933 das Büro der Frankfurter SPD stürmen, gelingt es Johanna Kirchner, die Mitgliederkartei zu retten. Wenig später muss sie fliehen, erst ins Saarland, dann nach Frankreich. Dem Tod kann die Sozialdemokratin allerdings nicht entrinnen.

von Lothar Pollähne · 24. April 2024
Bot den Nationalsozialisten mehr als einmal die Stirn: die Sozialdemokratin Johanna Kirchner

Bot den Nationalsozialisten mehr als einmal die Stirn: die Sozialdemokratin Johanna Kirchner

„Ich wünschte, Ihr könntet mich jetzt in meiner letzten Stunde sehen, wie tapfer und unverzagt ich bin, und dass in mir nur lebt die Erinnerung und die Liebe zu Euch und Eure Liebe zu mir und mein Herzenswunsch: Werdet glücklich und seid tapfer; es kommt eine bessere Zukunft für Euch; meine Liebe und mein Segen ist immerdar für Euch. Lebt wohl! Ich umarme und küsse Euch und drücke Euch an mein Herz und bleibe in Liebe immer Eure Mutsch“.

Mit diesen herzergreifenden Worten endet der letzte Brief, den Johanna Kirchner am 9. Juni 1944 an „Meine Lotte, meine Inge, meine Herzlieben alle“ schreibt. Kurz darauf wird sie unter dem Fallbeil im Gefängnis in Berlin-Plötzensee ermordet.

Schaurige Erinnerung der beiden Töchter

Genau zwei Jahre zuvor war für Johanna Kirchner die begrenzte Freiheit im französischen Exil jäh beendet worden. Am Morgen des 9. Juni 1942 klopfen Beamte der Geheimpolizei des Nazi-hörigen Vichy-Regimes an die Tür eines kleinen Hauses in Aix-les Bains, das Johanna Kirchner als Zufluchtsort gemietet hatte. Ein Nazi-Spitzel hatte ihren Aufenthaltsort ausgekundschaftet und an die Vichy-Schergen verraten. Über das Gestapo-Gefängnis Le Santé in Paris, in dem ein Jahr zuvor der ehemalige Finanzminister Rudolf Hilferding angeblich den Freitod wählte, wird Johanna Kirchner zunächst nach Saarbrücken und von dort aus ins Gefängnis Berlin-Moabit verbracht.

In der saarländischen Hauptstadt ist es ihr vergönnt, ihre beiden Töchter Lotte und Inge zu treffen, die sich mit Schaudern an diese Begegnung erinnern: „Wir haben ein kleines, ganz altes Frauchen gefunden, ganz zusammengeschrumpft.“ Da ist die ehedem als lebensfroh und optimistisch beschriebene Johanna Kirchner gerade 53 Jahre alt.

Eine durch und durch sozialdemokratische Familie

Johanna Kirchner wird am 24. April 1889 in Frankfurt in eine „Arbeiterdynastie“ hineingeboren. Ihr Großvater Heinrich Prinz ist Gründungsmitglied der Frankfurter SPD und nahm 1875 als Delegierter am Gothaer Vereinigungsparteitag teil. Von der Geburt der Enkelin erfährt „der rote Prinz“, wie er in Frankfurt respektvoll genannte wird, erst mit Verspätung. Er lebt in Darmstadt „im Exil“, weil er im Zuge der Sozialistengesetze aus Frankfurt ausgewiesen worden ist. Johannas Großmutter Anna Babette Prinz sorgt mit ihrer Tochter Karoline Stunz dafür, dass die großväterliche Kneipe, das Stammlokal der Frankfurter SPD, auch in dieser bedrückenden Zeit weiter betrieben werden kann.

Selbstverständlich sind auch Johannas Mutter und Großmutter Sozialdemokratinnen, obwohl sie dies in jenen Jahren offiziell gar nicht sein dürfen. Johannas Vater Ernst Stunz ist als Sozialdemokrat in der Gewerkschaftsbewegung tätig. Das Odium, in einer Familie von „Reichs- und Vaterlandsfeinden“ aufzuwachsen, prägt also Johannas Kindheit. 

Marie Juchacz wird zur Bezugsperson

Als am 15. Mai 1908 das neue Reichsvereinsgesetz in Kraft tritt, das Frauen das Recht einräumt, Mitglied einer Partei zu werden, tritt die Handlungsgehilfin Johanna Stunz der SPD bei. Im selben Jahr wird ihr Großvater Heinrich in den Rat der Stadt Frankfurt am Main gewählt. Nach dessen Tod führt Anna Babette Prinz die Kneipe ihres Mannes weiter, in der auch Johanna neben ihrer Erwerbsarbeit als Bedienung tätig wird. 1910 lernt sie dort den Mann kennen, der ihr künftiges Leben mitprägen wird: den Journalisten und Parteisekretär Karl Kirchner. Beide heiraten im Januar 1913, nachdem schon im Jahr davor die gemeinsame Tochter Lotte geboren wurde. Kurz vor Beginn des ersten Weltkrieges komplettiert die zweite Tochter Ingeborg die Familie Kirchner. 

Mit dem Krieg zieht alsbald das Elend in die meisten Arbeiterfamilien ein, denn die Männer werden „zu den Waffen gerufen“. 1915 wird der kriegsuntaugliche Karl Kirchner Mitgründer und Geschäftsführer der „Frankfurter Kriegsfürsorge“ und damit zuständig für die Armenspeisung. Auch Johanna widmet sich trotz ihrer Verantwortung für die eigenen Töchter „mit heißem Herzen den Frauen und Kindern“, berichtet Marie Juchacz, die zur zweiten wichtigen Bezugsperson der fürsorglichen Frau wird.

Obwohl sie prinzipiell gegen den Krieg eingestellt ist, bleibt Johanna Kirchner dem Gedanken einer einheitlichen Arbeiterpartei verpflichtet und reiht sich nicht in die kleine Zahl der Gegner der Kriegskredite ein. Die Spaltung der Partei, die auch in Frankfurt zu erheblichen Verwerfungen führt, missbilligt Johanna Kirchner. 1919 wird sie in den Vorstand der Frankfurter Mehrheits-SPD gewählt und im Jahr darauf als Delegierte zum Kasseler Parteitag entsandt. In ihrer einzigen Parteitagsrede beschwört sie den einheitlichen Kampf gegen den Kapitalismus und eine Politik, die getragen sein müsse „vom Vertrauen nicht nur unserer Genossen, sondern der gesamten Arbeiterschaft.“

Soziale Arbeit statt Parteikarriere

Trotz ihres Ansehens in der Frankfurter SPD strebt Johanna Kirchner keine parteipolitische Karriere an. Ihr Betätigungsfeld bleibt die soziale Arbeit, und so beteiligt sie sich folgerichtig am Aufbau der „Arbeiterwohlfahrt“ in Frankfurt, denn das Elend der Arbeiterfamilien ist auch nach Kriegsende unübersehbar. In einem Beitrag für die Zeitschrift „Arbeiterwohlfahrt“ schreibt sie Mitte der 1920er Jahre: „Wenn unsere Sozialpolitik in Deutschland heute eine gewisse Höhe erreicht hat, so darf nicht vergessen werden, dass dies nur dem fortgesetzten Drängen der Sozialdemokratie zu verdanken ist. Auf dem Gebiete der Sozialpolitik kann und muss es immer nur ein ‚Vorwärts!‘ geben.

1926 lassen sich Johanna und Karl Kirchner scheiden, bleiben aber der Kinder wegen und aus politischer Überzeugung befreundet, selbst als Johanna eine kurzlebige zweite Ehe eingeht. Da sie mit ihren beiden Kindern weitgehend auf sich gestellt ist, nimmt Johanna Kirchner bereitwillig das Angebot an, hauptamtlich als Parteisekretärin der Frankfurter SPD tätig zu werden. Gegen Ende der 1920er Jahre wird die energische Frau zur viel gefragten Rednerin und kämpft vehement gegen den erstarkenden Nationalsozialismus. Was passieren wird, wenn die Nazis an die Macht kommen, braucht ihr niemand zu erklären. Sie erlebt es auf den Straßen Frankfurts hautnah mit.

Innerlich auf die Nazis vorbereitet

Als die Nazis nach der Machtübertragung ihre legalistische Maske ablegen und die organisierte Arbeiterbewegung zerschlagen, ist Johanna Kirchner innerlich vorbereitet. Am 2. Mai 1933 überfallen SA-Leute das Parteibüro. Johanna Kirchner ist an diesem Tag selbstverständlich an ihrem Platz und erkennt den Ernst der Lage. Während die männlichen Angestellten im Hinterhof gedemütigt werden, nehmen die SA-Leute von den Frauen keine Notiz, und so gelingt es Johanna Kirchner, die Mitgliederkartei der Frankfurter SPD zu retten. 

Obwohl ihre Lage bedrohlich ist, kann sich Johanna Kirchner noch nicht zur Flucht entscheiden. Zu sehr ist sie in ihrem Frankfurt verwurzelt. Dass sie im Juni 1933 dennoch fliehen muss, „verdankt“ sie einer mutigen Aktion, zu der sie von Bekannten gedrängt worden ist. Der Reichstagsabgeordnete Carlo Mierendorff ist  von den Nazis verhaftet worden, und so reist Johanna Kirchner nach Genf, um während der Tagung des „Internationalen Arbeitsamtes“ Wilhelm Leuschner zu bitten, sich für die Freilassung seines ehemaligen Pressesprechers einzusetzen. Ihr Engagement hat zwar nicht die Freilassung Mierendorffs zur Folge, aber Johanna Kirchners Flucht ins Saarland, das unter Völkerbunds-Mandat steht. Sie ist gewarnt worden, dass sie bei ihrer Rückkehr nach Frankfurt verhaftet werden würde.

Zuflucht im Saarland

Völlig mittellos, aber beseelt von dem Gedanken, anderen Flüchtlingen helfen zu sollen, kommt Johanna Kirchner in Saarbrücken an. Ihre Versuche, in Luxemburg oder in den Niederlanden Arbeit zu finden, bleiben erfolglos. Arbeit findet sie schließlich als Serviererin in einem Restaurant, das Marie Juchacz in Saarbrücken eröffnet hat. Hier treffen sich Flüchtlinge aus allen sozialistischen Parteien. Im Oktober 1934 wird Johanna Kirchner Angestellte im saarländischen SPD-Büro und enge Mitarbeiterin des Parteisekretärs Emil Kirschmann sowie des Landesvorsitzenden Max Braun. Mit beiden organisiert sie die Kontakte zum SPD-Exilvorstand in Prag. Dabei kommt ihr zugute, dass sie mit dem Parteikassierer Siegmund Crummenerl befreundet ist.

1936 wird das Saarland nach der Volksabstimmung aus dem Vorjahr an Hitler-Deutschland angeschlossen und Johanna Kirchner muss erneut fliehen. Im nahe gelegenen lothringischen Städtchen Forbach organisiert sie mit Emil Kirschmann eine Beratungsstelle für Flüchtlinge, die für die gesamte französische Republik zuständig ist. Am 2. Februar 1937 wird Johanna Kirchner ausgebürgert und nach dem Überfall Nazi-Deutschlands im Jahr 1940 für kurze Zeit im Lager Gurs inhaftiert, das im noch nicht besetzten Teil Frankreichs liegt. Sie kann jedoch mit Unterstützung des Lagerkommandanten fliehen, aber die Flucht ist nur von kurzer Dauer. Johanna Kirchner, die so vielen Menschen zur Flucht verholfen hat, muss nach ihrer erneuten Verhaftung am 9. Juni 1942 die bittere Reise ins „Reich“ antreten. 

Roland Freisler verurteilt sie zum Tod

Im Mai 1943 verurteilt der so genannte Volksgerichtshof Johanna Kirchner zu einer Zuchthausstrafe von zehn Jahren. Zur Strafverbüßung wird sie ins Zuchthaus in Cottbus verbracht. Am 21. April 1944 hebt Roland Freisler, der Vorsitzende des Volksgerichtshofes das Urteil eigenmächtig auf und verurteilt Johanna Kirchner zum Tode, weil sie „in unserem Reich hochverräterisch gewühlt“ habe. In einem Brief an Johannas Tochter Lotte beschreibt Pater Buchholz seine letzten Eindrücke vor der Ermordung: „Sie hat ihr schweres Schicksal mit seltener Fassung und Ruhe hingenommen und bis zuletzt eine innere und äußere Haltung bewahrt, die beispielhaft war und eine vorbildliche seelische Größe und die ganze Reife ihrer starken fraulichen Persönlichkeit zeigte.“

Zum Weiterlesen: Antje Dertinger und Jan von Trott: „… und lebe immer in Eurer Erinnerung“ – Johanna Kirchner - Eine Frau im Widerstand, J.H.W. Dietz Nachf., 1985

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Lothar Pollähne

ist Journalist und stellvertretender Bezirksbürgermeister in Hannover.

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