145 Jahre Sozialistengesetz: Als Bismarck sich verrechnete
picture alliance / akg-images
In der Geschichte der Sozialdemokratie markierte das Sozialistengesetz (1878-1890) den vorläufigen Höhepunkt einer jahrelangen Verfolgungsgeschichte. Es war der Versuch, den politischen Arm der aufsteigenden Arbeiterbewegung auszuschalten, indem alle sozialistischen Organisationen, Zeitungen, Vereine und Gewerkschaften verboten wurden.
Ein Attentat als Auslöser
Dem Gesetz war am 2. Juni 1878 ein Attentat auf Kaiser Wilhelm I. vorausgegangen. Es war das zweite innerhalb kurzer Zeit: Erst im Mai hatten den Kaiser die Schüsse eines völlig verbogenen Laufs verfehlt. Schon damals war die Situation heikel gewesen, da Bismarck das Attentat sofort mit der Sozialdemokratie in Verbindung gebracht hatte. Diese galt ihm seit Jahren als Feind, gegen den „der Staat, die Gesellschaft sich im Stande der Nothwehr befinde“, und so sah er bereits nach dem Mai-Attentat die Gelegenheit gekommen, gegen die unliebsame Sozialdemokratie mit einem Ausnahmegesetz vorzugehen.
Diesem wenig später in den Reichstag eingebrachten Gesetz blickten die Sozialdemokraten zu diesem Zeitpunkt noch mit Gelassenheit entgegen, da die Reaktionen von Presse und Öffentlichkeit auf das Attentat recht kühl ausgefallen waren. Das Gerücht, der Attentäter habe eine Verbindung zur Sozialdemokratie gehabt, konnte sich allerdings nicht durchsetzen. An den Verhandlungen über den Gesetzesentwurf im Reichstag nahm die Partei dann auch nicht teil. Schnell wurde klar, dass es Bismarck mit dem Gesetzentwurf auch darum ging, die Liberalen auf seine Seite zu ziehen und ein gemeinsames Bündnis gegen die Sozialdemokratie zu schmieden. Eine gesetzlich fundierte Ungleichbehandlung von Reichsbürgern wollten die Liberalen aber nicht hinnehmen, und so wurde das Ausnahmegesetz Ende Mai von einer großen Mehrheit der Reichstagsabgeordneten abgelehnt.
Bebels Erleichterung ist nur von kurzer Dauer
Als am 2. Juni 1878 die Nachricht von einem erneuten Attentat auf den Kaiser die Runde machte, war August Bebel dann doch besorgt. Er ahnte, dass Bismarck jedwede Verbindung zur Sozialdemokratie nun erst recht für ein Ausnahmegesetz gegen die Partei nutzen würde. Als in der Vorwärts-Redaktion ein Telegramm einging, dass eine Verbindung zur Sozialdemokratie ausschloss, konnte Bebel zunächst aufatmen. Die Erleichterung war allerdings nur von kurzer Dauer, denn noch am selben Tag meldeten viele Zeitungen eine amtliche Mitteilung des Wolf’schen Telegraphenbüros, wonach der Attentäter sich in der gerichtlichen Vernehmung zu sozialistischen Tendenzen und zum Besuch sozialistischer Versammlungen bekannt habe.
Auch wenn sich der Verdacht von Polizei und Staatsanwaltschaft nicht erhärten ließ, geriet die öffentliche Meinung nach Bebels Erinnerung darüber in „Siedehitze“. Vor dem Hintergrund des immer noch ungewissen Gesundheitszustands des Kaisers und der ungeklärten Umstände des Attentats kam es zu einer regelrechten Massenhysterie, die Bismarck endgültig den Weg zu seinem Ausnahmegesetz gegen die sozialdemokratische Gefahr ebnen sollte.
Bismarck wittert die Chance
In dieser Stimmung, die an „Wahnsinn grenzte“, ließen nun auch die Liberalen ihre rechtsstaatlichen Bedenken fallen und schlossen sich dem „antiliberalen Trend“ an. Bismarck, der immer noch daran zweifelte, ob die Nationalliberalen einem derart harten Gesetz gegen die Sozialdemokratie wirklich ihre Stimmen geben würden, sah die Gelegenheit gekommen, die Mehrheitsverhältnisse im Reichstag zugunsten einer konservativen Koalition zu verschieben. Mit Zustimmung des Kaisers löste er kurzerhand den Reichstag auf und setzte Neuwahlen an.
Die Wahlen brachten nicht nur die gewünschte politische Schwächung der Liberalen, sondern sicherten auch die benötigten Stimmen zur Verabschiedung des Sozialistengesetzes. Schließlich votierten am Tag der Abstimmung über das „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ 221 für dessen Einführung, 149 dagegen. Am 21. Oktober trat das Gesetz in Kraft.
Die Sozialdemokratie geht gestärkt hervor
Das Sozialistengesetz war der schwerste Schlag, den die Sozialdemokratie seit ihrer Entstehung hatte hinnehmen müssen. 330 sozialdemokratische Vereine wurden verboten, 1.000 Druckschriften beschlagnahmt, 1.500 Jahre Strafhaft verhängt und insgesamt 1.900 Sozialdemokraten ausgewiesen. Bebel beschrieb diese Erfahrungen später als „tödliche Beleidigung“, die kein Prozess und keine Verhandlung gegen ihn hätte auslösen können.
Die massiven Repressalien und Verfolgungen, denen die Partei in den kommenden zwölf Jahren ausgesetzt war, verfehlten dennoch ihr Ziel, die Sozialdemokratie zu zerschlagen. Stattdessen beförderte die Ausgrenzung der Partei sogar die Ausbildung eines weitgehend abgeschlossenen sozialistischen Milieus, das bald weit über die ursprüngliche Anhängerschaft der Sozialdemokratie hinausreichte und nach dem Fall des Sozialistengesetzes ganz wesentlich dazu beitrug, dass die SPD zur stärksten politischen Kraft des späten Kaiserreichs werden konnte.
node:vw-infobox
ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Neuere und Neueste Geschichte der TU Dresden und forscht zur Geschichte der Sozialdemokratie im Kaiserreich.