Geschichte

Carlo Mierendorff: Wie der jüngste SPD-Abgeordnete Goebbels Paroli bot

Carlo Mierendorff war die rechte Hand Wilhelm Leuschners und der jüngste Reichstagsabgeordnete der SPD. Er kam aus dem Exil zurück, um gegen Hitlers Ermächtigungsgesetz zu stimmen. Am 4. Dezember 1943 starb er.

von Lothar Pollähne · 4. Dezember 2023
Carlo Mierendorff war SPD-Abgeordneter im Reichstag und stimmte gegen Hitlers Ermächtigungsgesetz.

Carlo Mierendorff war SPD-Abgeordneter im Reichstag und stimmte gegen Hitlers Ermächtigungsgesetz.

Am 25. November 1931 übergibt der abtrünnige Hessische Nazi-Abgeordnete Wilhelm Schäfer dem Frankfurter Polizeipräsidenten Steinberg Papiere, die Pläne für die Ausübung der Macht nach der nationalsozialistischen Übernahme des Deutschen Reiches enthalten. Diese Pläne, aus der Hand des Amtsrichters Werner Best, skizzieren bereits das ganze Ausmaß des Nazi-Terrors, der ein gutes Jahr später seinen Lauf nehmen wird. Steinberg reicht die Papiere noch am selben Tage weiter an den Hessischen Innenminister Wilhelm Leuschner, und der beauftragt seinen Pressesprecher, für die Veröffentlichung der brisanten Unterlagen zu sorgen. 

Radikal anti-nazistischer Kurs

Am 26. November titelt der „Vorwärts“: „Die Blutpläne von Hessen“ und kommentiert: „Regieren heißt für die Leute, andere erschießen zu lassen. Ihre Phantasie ist ausgefüllt mit Hinrichtungsszenen, Lust an Macht ist für sie gleichbedeutend mit Lust an Mord.“ Das sorgt in der demokratischen Öffentlichkeit für Entsetzen. Das nach Hausdurchsuchungen bei Nationalsozialisten verifizierte Papier, bei denen eine Durchschrift des Originals gefunden wird, geht als „Boxheimer Dokument“ in die Geschichte ein. Dies ist vor allem Carlo Mierendorff zu verdanken, dem Vertrauten und Pressereferenten von Wilhelm Leuschner.

Mit der Veröffentlichung des „Boxberger Dokuments“ setzt Carlo Mierendorff seinen radikal anti-nazistischen Kurs fort, den er öffentlichkeitswirksam im Februar 1931 im Reichstag zur Schau gestellt hatte. Den pöbelnden Nationalsozialisten hält er sein Eisernes Kreuz Erster Klasse aus dem großen Krieg entgegen und polemisiert: „Fragen Sie doch einmal Herrn Goebbels nach seinem Eisernen Kreuz Erster Klasse. Herr Goebbels sagt: Deutschland muss nationalsozialistisch regiert werden. Nein. Dafür haben wir Kriegsteilnehmer nicht vier Jahre lang unseren Kopf hingehalten. Dafür nicht, dass die Nationalsozialisten aus Deutschland ein Tollhaus machen.“ Mit diesen Worten tritt der jüngste Abgeordnete der SPD-Reichstagsfraktion ins demokratische Rampenlicht.

Idylle endet mit dem großen Krieg

Carlo Mierendorff, der am 24. März 1897 im sächsischen Großenhain geboren wird, wächst in einer aus heutiger Sicht als sozial-liberal zu bezeichnenden Familie auf. 1907 zieht die Familie nach Darmstadt. Der musisch begabte Carlo besucht das ehrwürdige „Ludwig-Georg-Gymnasium“, begeistert sich für die bürgerlich aufmüpfige Wandervogelbewegung und verfasst kleine literarische Texte. Mit Freunden trifft er sich in einer Dachstube, die als Namensgeberin für die erste kleine Zeitschrift dient. Carlos Eltern unterstützen ihren Sohn bei seinen Selbstverwirklichungsbemühungen.

Der Beginn des großen Kriegs beendet Carlos Idylle, und der junge Mann begeistert sich — wie viele seiner gymnasialen Zeitgenossen — für den Waffengang. Nach dem Notabitur wird er notdürftig ausgebildet und an die Ostfront geschickt. Nach einer Verwundung — Carlo Mierendorff erleidet ein Knalltrauma — erhält er bereits als 17-Jähriger das Eiserne Kreuz Zweiter Klasse. Während eines Genesungsurlaubs schreibt sich Carlo Mierendorff als Student ein, bleibt aber, wenn auch angewidert, Soldat und hofft auf „Erlösung von dem Maulwurfsleben in den Gräben mit seiner Eintönigkeit.“ Kurz vor Kriegsende erhält er für seine Einsätze auf vorgeschobenem Posten an der Westfront das Eiserne Kreuz Erster Klasse verliehen, angeblich aus der Hand des Kaisers.

Hessischer radikaler Demokrat

Demobilisiert und desillusioniert begeistert sich Mierendorff dennoch kurzzeitig für die russischen Oktober-Revolutionär*innen, ohne jedoch während der deutschen November-Revolution deren Weg einzuschlagen. Stattdessen will er die Welt mit Worten auf den republikanisch-demokratischen Weg bringen. Zurück in Darmstadt gibt er die Zeitschrift „Das Tribunal“ heraus, die in Anlehnung an den Radikaldemokraten Georg Büchner den Untertitel „Hessische radikale Blätter“ trägt. Ein Semester lang studiert er Rechtswissenschaften in Frankfurt am Main, dann wechselt er im Sommer 1919 zum Studium der Staatswissenschaften nach Heidelberg. Im Jahr darauf zieht es ihn nach München, in Erwartung, den von ihm verehrten Soziologen Max Weber zu hören. Webers früher Tod macht diese Hoffnung zunichte. Über Freiburg im Breisgau kehrt Mierendorff schließlich 1921 nach Heidelberg zurück, wo er 1922 mit einer Arbeit über die Wirtschaftspolitik der Kommunistischen Partei Deutschlands zum Dr.  phil. promoviert wird. Das Dissertationsvorhaben wäre beinahe gescheitert, weil Carlo Mierendorff nach der Ermordung Walter Rathenaus das Institut des antisemitischen Nobelpreisträger Phlipp Lenard besetzt, der sich geweigert hatte, an seinem Institut Trauerbeflaggung aufziehen zu lassen.

1923 macht sich Carlo Mierendorff als wissenschaftlicher Fachreferent des Transportarbeiterverbandes in Berlin auf seinen politischen Lebensweg. Bereits Anfang 1920 ist er Mitglied der SPD geworden und wird fortan als „Genosse Herr Doktor“ bezeichnet. 1925 kehrt er in seine Heimatstadt Darmstadt zurück, wo er als Feuilletonredakteur bei der sozialdemokratischen Tageszeitung „Hessischer Volksfreund“ angestellt wird. Mit Abhandlungen über Generationenkonflikte, Propaganda und Symbolpolitik verschafft sich Carlo Mierendorff rasch ein Renommee als sozialdemokratischer Intellektueller. 1926 beruft ihn die Reichstagsfraktion zu einem ihrer Sekretäre. Das gibt ihm die Möglichkeit, tagespolitische Erfahrungen zu machen.

Leuschner war ein Freund fürs Leben

Diese Berliner Lehrjahre bestimmen Mierendorffs nächsten Karriereschritt. 1929 wechselt er aus Berlin zurück nach Darmstadt und wird Pressereferent des hessischen Innenministers Wilhelm Leuschner. Der Arbeitersohn Leuschner und der radikaldemokratische Bürgersohn Mierendorff werden zu Freunden fürs Leben und bilden eine politisch symbiotische Aktionsgemeinschaft. Als 1930 ein Reichstagsmandat frei wird, greift Carlo Mierendorff zu, wird gewählt und gehört alsbald zur „jüngeren Führungsgeneration“ der Partei (Helga Grebing). Neben dem Kampf gegen die Nazis engagiert sich Mierendorff in der Verfassungspolitik, angetrieben von der Ansicht, dass der demokratische Staat ein „Veränderungsinstrument“ sein könnte.

In der Schlussphase der Weimarer Republik setzt Carlo Mierendorff auf die Kraft der Symbole und die Emotionalisierung der politischen Auseinandersetzung. Bereits 1930 hat er mit der Studie „Gesicht und Charakter der nationalsozialistischen Bewegung“ die Bedeutung der Symbolpolitik für den Wahlerfolg herausgearbeitet. Als Mitglied des Reichsbanners „Schwarz-Rot-Gold“ und der „Eisernen Front“ mischt sich Mierendorff agitatorisch in die Tagespolitik ein. Gemeinsam mit seinem Freund, dem Mikrobiologen Sergei Stepanowitsch Tschachotin, entwirft er die drei Pfeile, die zum minimalistischen Symbol der „Eisernen Front“ werden. Mierendorffs Auffassung, dass die Arbeiterklasse ein Lebensinteresse am „planmäßigen Ausbau des deutschen Staates zu einer sozialen, demokratischen Republik“ habe, erweist sich nach der Machtübertragung an die Nazis und den falschen Erwartungen der Arbeiterorganisationen als Trugschluss.

Fünf Jahre Martyrium in vier Konzentrationslagern

Nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler flieht Carlo Mierendorff in die Schweiz, aber obwohl ihn Freunde beschwören, das Exil als Aufenthaltsort zu wählen, kehrt er 14 Tage später nach Berlin zurück und hält sich bedeckt. Am 24. März 1933 stimmt er mit seiner Reichstagsfraktion gegen Hitlers Ermächtigungsgesetz. Nachdem SA-Schergen den ihnen verhassten Carlo Mierendorff durch die Straßen geschleift hatten, versteckt dieser sich und sucht kurzzeitige Sicherheit bei seinem Freund, dem Schriftsteller Carl Zuckmayer. Am 13. Juni 1933 wird Carlo Mierenndorff in einem Café in Frankfurt am Main verhaftet und in Darmstadt, quasi als Trophäe, öffentlich zur Schau gestellt. Bis 1938 dauert Mierendorffs Martyrium als Häftling in den Konzentrationslagern Osthofen, Börgermoor, Papenburg, Lichtenburg und Buchenwald. 

Im Januar 1938 wird Carlo Mierendorff überraschend entlassen. Eine Zeit lang hält er sich politisch zurück. Erst als er die Leitung der Werkszeitung der „Braunkohle-Benzin AG“ (BRABAG) übernimmt und teilweise aus dem Blickfeld der Gestapo gerät, nimmt Carlo Mierendorff Kontakt zu alten Freunden, wie Wilhelm Leuschner und seinem Jugendfreund Theodor Haunach, auf. Sein Freund Adolf Reichwein gewinnt ihn für die Mitarbeit im „Kreisauer Kreis“, wo er als „Dr. Friedrich“ zur wichtigen Scharnierfigur zwischen Sozialdemokraten, Bürgerlichen und Militärs wird. 

Tod bei Luftangriff auf Leipzig

Ein besonders enges Verhältnis verbindet Carlo Mierendorff mit Helmut James Graf von Moltke. In dessen Nachlass findet ein niederländischer Historiker jenes Papier, das nach dem erfolgreichen Attentat auf Hitler im Juli 1944 als Flugblatt verbreitet werden sollte. Darin heißt es: „Nie wieder soll das deutsche Volk sich im Parteienstreit verirren! Nie wieder darf die Arbeiterschaft sich im Bruderkampf zerfleischen! Nie wieder Diktatur und Sklaverei!“ Dieses später als „Programmaufruf zur Sozialistischen Aktion“ bezeichnete Papier stammt aus der Feder von Carlo Mierendorff. 

Am 4. Dezember 1943 stirbt Carlo Mierendorff bei einem britischen Luftangriff auf Leipzig. Eine Schweizer Zeitung würdigt den Mann, der „den Gedanken der sozialistischen Gerechtigkeit“ verkörperte, mit den Worten: „Dem deutschen Volk wird dieser Mann fehlen. Er wäre berufen gewesen, führend am Aufbau einer freiheitlichen Demokratie mitzuwirken.“ 

Autor*in
Avatar
Lothar Pollähne

ist Journalist und stellvertretender Bezirksbürgermeister in Hannover.

Weitere interessante Rubriken entdecken

0 Kommentare
Noch keine Kommentare