Geschichte

„Meine Herren und Damen“: Marie Juchacz' historische Rede im Reichstag

Am 19. Februar 1919 trat zum ersten Mal eine Frau ans Rednerpult in einem deutschen Parlament: die SPD-Abgeordnete Marie Juchacz. Dass sie im Reichstag sprechen konnte, war das Ergebnis eines langen Kampfes für die Rechte der Frauen in Deutschland.
von Thomas Horsmann · 19. Februar 2019
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Am 19. Februar 1919 erteilt der Präsident der verfassunggebenden Nationalversammlung in Weimar der SPD-Abgeordneten Marie Juchacz das Wort. Es ist bereits der elfte Sitzungstag. Die schlanke Frau tritt an das Rednerpult und beginnt souverän und selbstbewusst mit einer Umkehrung der traditionellen bürgerlichen Höflichkeitsformel: Statt mit „Meine Damen und Herren“ spricht sie die versammelten Abgeordneten mit „Meine Herren und Damen“ an. Ein Hinweis darauf, dass Damen im Plenum sich gleichberechtigt fühlen und ihren männlichen Kollegen dieselbe Höflichkeit erweisen, wie umgekehrt. Die überraschende Wendung löst im Saal Heiterkeit aus.

Die begabte Rednerin fährt jedoch ungerührt fort: „Es ist das erste Mal, dass in Deutschland die Frau als Freie und Gleiche im Parlament zum Volke sprechen darf, und ich möchte hier feststellen, (…) dass wir deutschen Frauen dieser Regierung nicht etwa (…) Dank schuldig sind. Was diese Regierung getan hat, das war eine Selbstverständlichkeit: Sie hat den Frauen gegeben, was ihnen bis dahin zu Unrecht vorenthalten worden ist.“

Die SPD setzt das Frauenwahlrecht durch

Tatsächlich waren die Frauen in Deutschland vor der Revolution politisch entmündigt. Erst seit 1908 durften sie überhaupt politische Versammlungen besuchen und Mitglied einer Partei werden. Dafür hatte die Frauenbewegung jahrzehntelang hart gekämpft, unterstützt von der Sozialdemokratie. Doch auch wenn es Erfolge im Kampf für die Gleichberechtigung gab, durften Frauen auch nach 1908 nicht wählen. Das änderte sich erst mit dem Ende des Kaiserreichs. Am 12. November 1918 erließ der regierende „Rat der Volksbeauftragten“ unter Führung von SPD-Chef Friedrich Ebert ein neues Wahlgesetz, in dem das aktive und passive Wahlrecht „für alle mindestens 20 Jahre alten männlichen und weiblichen Personen“ eingeführt wurde. Die Wahl zur Nationalversammlung am 19. Januar 1919 wurde zu einem großen Erfolg. Von den 17,7 Millionen wahlberechtigten Frauen gingen 82 Prozent zur Wahl. 300 Frauen kandidierten, 37 wurden gewählt – darunter Marie Juchacz.

Die spätere Gründerin der Arbeiterwohlfahrt wurde 1879 in Landsberg an der Warthe als Marie Gohlke geboren, besuchte die Volksschule und arbeitete zunächst als Dienstmädchen und Fabrikarbeiterin, dann als Krankenpflegerin. 1898 begann sie eine Schneiderlehre und heiratete 1903 ihren Lehrmeister Bernhard Juchacz. 1906 ließ sich Marie Juchacz scheiden und zog mit ihren beiden Kindern und ihrer Schwester nach Berlin, wo sie sich für die SPD zu engagieren begann. 1908 trat sie der Partei bei und wurde eine bekannte Rednerin. 1913 bis 1917 war sie hauptamtliche Frauensekretärin im SPD-Bezirk Obere Rheinprovinz in Köln. 1917 wurde Juchacz in den Zentralen Parteivorstand gewählt, hinzu kam die Leitung des Frauenbundes und die Redaktion der „Gleichheit – Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen“.

Gründerin und Ehrenvorsitzende der AWO

Marie Juchacz war nicht nur die erste Frau, die in einem deutschen Parlament sprach, sie war auch die einzige Frau, die dem „Ausschuss zur Vorbereitung des Entwurfs einer Verfassung des Deutschen Reichs“ der Nationalversammlung angehörte. 1920 trat sie erneut für die SPD an und wurde in den Reichstag gewählt, dem sie bis 1933 angehörte. Am 13. Dezember 1919 gründete Juchacz die Arbeiterwohlfahrt (AWO), deren Vorsitzende sie bis 1933 blieb. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten emigrierte sie über Frankreich in die USA. 1949 kehrte sie nach Deutschland zurück und wurde Ehrenvorsitzende der AWO. Marie Juchacz starb am 28. Januar 1956.

Der Frauenanteil im Reichstag war seit 1919 kontinuierlich von 8,7 Prozent auf 3,3 Prozent 1933 gesunken. Doch Marie Juchacz erlebte noch, wie sich die Zahl der weiblichen Abgeordneten wieder erholte. 1949 waren es 6,8 Prozent, 1953 8,8 Prozent und damit mehr als zu Juchacz aktiven Zeiten. Heute liegt der Frauenanteil im Bundestag bei 30,9 Prozent.

Die Rede zum Nachhören und Nachlesen gibt es bei der Bundeszentrale für politische Bildung.

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