Geschichte

Der Kanzler und der Autor: Was Willy Brandt und Günter Grass verband

Vor zehn Jahren starb Literaturnobelpreisträger Günter Grass. Obwohl er erst lange nach dessen Kanzlerschaft SPD-Mitglied wurde, unterstützte Grass Willy Brandt in zahlreichen Wahlkämpfen. Dabei war ihr Verhältnis nicht immer einfach.

von Martin Kölbel · 13. April 2025
Sie schätzten sich bei allen Unterschieden: Günter Grass und Willy Brandt bei einer Wahlkampfveranstaltung 1976 in Hamburg

Sie schätzten sich bei allen Unterschieden: Günter Grass und Willy Brandt bei einer Wahlkampfveranstaltung 1976 in Hamburg

Ihre knapp 30-jähre Geschichte beginnt mit einem Fehlurteil. Als Willy Brandt im Frühjahr 1961 erstmals einige Intellektuelle nach Bonn einlädt, um mit Ihnen über die anstehende Bundestagswahl zu sprechen, fehlt ausgerechnet Günter Grass auf seiner Liste: Er sei Anarchist, heißt es, und für die Politik nicht zu haben. Erst beim zweiten Treffen ist Grass mit dabei, und als Brandt nun die kleine Schar Schriftsteller um Unterstützung bittet, wird Grass der Einzige sein, der „den Finger hebt“.

Der parteilose Grass ergreift Partei für Brandt und die SPD

Mit diesem Fingerzeig beginnt Grass‘ ebenso große wie eigenwillige politische Karriere. Lässt man sie im Zeitraffer Revue passieren, fällt sofort die enorme Tatkraft auf, mit der ein Schriftsteller „Schrittmacher für größere Veränderungen“ sein will. So entschieden er sich auch in alles politisch Erdenkliche und Unerdenkliche einmischte, so stark er provozierte, pointierte und als Parteiloser für Brandt und die SPD Partei ergriff, immer suchte er mit beiden seiner „Bierdeckel“ zu hantieren: „Der hier ist die politische Arbeit, mache ich als Sozialdemokrat und Bürger; der ist mein Manuskript, mein Beruf, mein Weißnichtwas.“ 

Doch bereits 1966 droht die „miese Ehe“ Große Koalition die zaghafte Politisierung wieder abzuwürgen. Grass jedoch versammelt bei sich zu Hause in der Berliner Niedstraße ein kleines Duzend Intellektuelle, die ein dezentrales Netzwerk von politisch engagierten Sympathisant*innen gründen werden: Die Sozialdemokratische Wählerinitiative will wie eine „Saline“ das Salz für die sozialdemokratische Suppe produzieren und Brandt als „Avantgarde der SPD“ bewerben.

Als der SPD 1969 tatsächlich der „Machtwechsel“ gelingt und sie mit der FDP Willy Brandt zum Bundeskanzler wählt, versucht sich Grass an seinem wohl kühnsten Projekt. Als freier, institutionell ungebundener und unkontrollierter Mitarbeiter will er in die Regierungsarbeit eingebunden werden, in etwa so, wie vor ihm Platon oder Grigori Rasputin und nach ihm vielleicht Elon Musk.

Doch Grass‘ Initiativen in der Außenpolitik und Entwicklungshilfe wird kein Erfolg krönen. Gewissen Einfluss auf Brandts Partei- und Regierungsarbeit kann er hingegen als Ratgeber, Reisebegleiter, Wahl- und Formulierungshelfer nehmen. Als Brandt 1974 infolge der Affäre um den Spion im Kanzleramt Günter Guillaume zurücktritt, legt auch der ämterlose Grass seine symbolischen Ämter nieder. Ohne Brandt habe die sozialdemokratische Politik eine für ihn unerlässliche Dimension verloren, nämlich Brandts „Art, Politik human zu betreiben und Toleranz als ihre Voraussetzung zu werten“. 

Nach dem Zerwürfnis finden sie wieder zusammen

Mit diesen Worten endet die Hochphase einer durchaus gelingenden Zusammenarbeit von „Geist“ und „Macht“. Aus ihr gehen zwei der prominentesten Akteure dessen hervor, was man rückblickend die zweite, die „intellektuelle Gründung der Bundesrepublik“ genannt hat. Ihr Beharren auf den partizipativen Elementen der Demokratie hilft nicht nur eine neue Politik der Bürgerbeteiligung zu etablieren, sondern verschafft der SPD auch eine unerreichte Bürgernähe und innerparteiliche Lebendigkeit, die ihr gleichermaßen Wahlerfolge und innere Zerreißproben eingebracht hat. 

Liest man vor diesem Hintergrund Grass‘ zahlreiche Briefe, kommt man rasch ins Staunen: Wie konnte Brandt diesen notorischen Nörgler und Dreinredner schätzen lernen? Ihr Verhältnis hätte nicht zuletzt Ende 1973 im Zerwürfnis enden müssen, als Grass im NDR staatstragend vortrug, was man tags darauf im „vorwärts“ nachlesen konnte: „Allzu viele Ehrungen“ hätten den Friedensnobelpreisträger „einsam gemacht und in einen Bereich entrückt, den Karikaturisten gerne über den Wolken ansiedeln“. 

Brandt reagierte darauf zunächst mit Ironie: „Günter, es ist immer wieder gut zu wissen, daß man sich in schwierigen Lagen auf seine Freunde verlassen kann.“ Seinem Ärger machte er sich ein halbes Jahr später Luft, als er die „Notizen zum Fall G“ (Guillaume) aufschrieb: „Günter Grass: Denkmal und andere Klugscheißereien“. Im Herbst 1974 fanden sie schließlich doch wieder eine gemeinsame Agenda.

Kritik als Beweis „sachlich angetragener Freundschaft“ 

Offenbar haben Brandt und Grass trotz ihrer Differenzen eine ebenso fragile wie fruchtbare Beziehung in der Grauzone von Politischem und Persönlichem, von Amtlichem und Freigeistigem zu finden vermocht. „Bevor wir zu uns kommen,“ liest man in Grass‘ „Tagebuch einer Schnecke“, „kommen wir immer zur Sache. Weil wir so verschieden sind, brauchen wir eine Sache, die wir unsere nennen.“ Eine Sache, die sie die ihre nennen konnten, dürfte ein geteiltes Verständnis politischen Handelns gewesen sein.

Grass hat es als steten Ausgleich zweier Gegenkräfte beschrieben: dem ideellen Streben nach gesellschaftlicher Veränderung einerseits und der Melancholie über eine alles ausbremsende Pragmatik andererseits. Als Grass 1992 seinen Nachruf auf der Trauerfeier für Brandt vortrug, nannte er, dabei Brandt gewiss auch verklärend, den dafür wohl wichtigsten Grund: „Kritik nahm er auf als Beweis sachlich angetragener Freundschaft.“ 

Zum Weiterlesen: Martin Kölbel (Hrsg.): Willy Brandt und Günter Grass: Der Briefwechsel, Steidl 2013, ISBN 978-3869306100

Autor*in
Martin Kölbel

ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bertolt-Brecht-Archiv, Berlin. Er ist Herausgeber des Buches „Willy Brandt und Günter Grass. Der Briefwechsel“ (Göttingen: Steidl 2013).

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Gespeichert von Armin Christ (nicht überprüft) am Mo., 14.04.2025 - 07:43

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Hat der vorwärts den 200sten Geburtstag von Ferdinand Lassalle verpennt ????

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