Geschichte

Todestag von Willy Brandt: Er war der Kanzler der Jugend

Er war ein Glücksfall für die Politik, sagte sein engster Vertrauter Egon Bahr über ihn. Als Emigrant und Widerstandskämpfer war Willy Brandt vor allem Vorbild für die damals jungen Menschen – weit über die Parteigrenzen hinaus.
von Renate Faerber-Husemann · 5. Oktober 2017
Überzeugte durch menschliche Glaubwürdigkeit und antiautoritäre Autorität vor allem die Jugend: SPD-Kanzler und Parteichef Willy Brandt.
Überzeugte durch menschliche Glaubwürdigkeit und antiautoritäre Autorität vor allem die Jugend: SPD-Kanzler und Parteichef Willy Brandt.

Am 8. Oktober 1992, also vor 29 Jahren, starb Willy Brandt in Unkel am Rhein im Alter von 79 Jahren. Und immer noch ist er für jene, die ihn als Bundeskanzler und Parteivorsitzenden erlebt haben, erstaunlich präsent. Das liegt nicht nur daran, dass er für die „goldenen Jahre“ der Nachkriegs-SPD steht, der er ein neues Selbstbewusstsein schenkte.

Menschliche Glaubwürdigkeit

Willy Brandt, der Emigrant und Widerstandskämpfer war Vorbild für viele, vor allem aber für die damals jungen Menschen, die sich bis heute voll Dankbarkeit an ihn erinnern. Für ihn mussten sie sich nicht schämen. Er war ein Gegenbild zur schweigenden Elterngeneration, die ihre Kinder allein gelassen hatte mit dem Schrecken des Auschwitz-Prozesses, mit der Wut über den Aufstieg der NPD, die in den 60er Jahren in sieben Landtage einziehen konnte. Es war die Jugend – weit über die Parteigrenzen hinaus, die begeistert war von seiner Aufforderung in der ersten Regierungserklärung: „Mehr Demokratie wagen“.

Horst Ehmke, sein in diesem Jahr verstorbener Kanzleramtschef, hat das in der politischen Biografie „Mittendrin“ so beschrieben: „Seine antiautoritäre Autorität lag für die Genossen wie für die Bürger in seiner menschlichen Glaubwürdigkeit.  ...Willy Brandts Charme lag in seiner Fähigkeit zum Zuhören, die andere Menschen zum Sprechen brachte und in seiner Art, Menschen für seine Sache zu gewinnen, indem er sie von sich überzeugte.“

Glücksfall für die Politik

Brandts engster Vertrauter schon während der Jahre als Regierender Bürgermeister von Berlin war Egon Bahr. Kurz vor seinem Tod sagte Bahr, der Architekt der Ostverträge, über den Freund: „Mir war völlig klar, welch ein Glücksfall für die Politik er war. Der Osten hat ihn geschätzt wegen seiner antifaschistischen Biografie, der Westen hat ihn geschätzt wegen seiner Standfestigkeit in Berlin.“

Die Aussöhnung mit dem Osten trieb Willy Brandt schon als Außenminister während der großen Koalition von 1966 bis 1969 voran. Die Debatten darüber zerrissen das Land. Nach dem Einmarsch der Russen in Prag 1968 daran festzuhalten, wurde zum Kraftakt. Beim Blick zurück auf diese Jahre fragt man sich, wie der verletzbare und sensible Kanzler das durchgehalten hat. Es gab abscheuliche Hetzkampagnen aus der Union, die ihre Wahlniederlage von 1969 nicht verkraften konnte. Der Emigrant wurde als Vaterlandsverräter geschmäht, wegen seiner unehelichen Geburt beleidigt, in seinem Privatleben wurde herumgestochert. Sozialdemokraten, die diese Jahre erlebten, haben die Beleidigungen nie vergessen und nicht verziehen.

Friedensnobelpreis

Das Regieren war schwierig ab 1969, denn die knappe Mehrheit aus SPD und FDP schmolz dahin, weil rechte FDP-Abgeordnete zur Union wechselten. Gleichzeitig begannen Jahre großer Erfolge: Das Land wurde in einem Schwindel erregenden Tempo modernisiert. Für seinen Kniefall in Warschau wurde der Kanzler weit über die Bundesrepublik hinaus verehrt. 1971 erhielt er den Friedensnobelpreis und das Land war stolz auf ihn.

Doch das Regieren blieb schwierig. Die CDU/CSU-Opposition, bis 1969 die ewige Regierungspartei, konnte sich mit ihrer neuen Rolle nicht abfinden. Es kam im Bonner Parlament 1972 zu einem Misstrauensvotum, das nur knapp scheiterte. In dem darauf folgenden kurzen, heftigen Wahlkampf siegte die SPD überzeugend und lag mit 45,8 Prozent der Stimmen erstmals vor CDU und CSU.

Als der Bundeskanzler 1974 wegen der Spionageaffäre Guillaume zurücktrat, flossen nicht nur bei Sozialdemokraten Tränen. Der Rücktritt sei überflüssig gewesen, heißt es bis heute. Doch war Brandt wohl nach den so intensiven wie schwierigen Jahren erschöpft.

Brandts Abschied ins Privatleben

Es war aber kein Abschied ins Privatleben. Während der Zeit der Friedensbewegung nach dem NATO-Doppelbeschluss in den späten 70er und frühen 80er Jahren berief sich eine neue Generation von jungen Menschen wieder auf Brandt. Hunderttausende hörten seinen leidenschaftlichen Appellen auf der Bonner Hofgartenwiese zu.

Parteivorsitzender blieb er bis 1987. 23 Jahre lang war er immer wieder mit großen Mehrheiten in dieses Amt gewählt worden. Nach seinem Rücktritt wegen einer Lappalie begann die lange Zeit der rasanten Wechsel im Parteivorsitz. Präsident der Sozialistischen Internationale war Willy Brandt bis zu seinem Tod. Und hätte man auf ihn, den Vorsitzenden der Nord-Süd-Kommission bis 1980, gehört, dann wären  heute vielleicht nicht so viele junge Männer aus afrikanischen Ländern auf der Flucht nach Europa, weil sie in ihren eigenen Ländern keine Zukunftschancen sehen.

Auch 29 Jahre nach seinem Tod berufen sich viele Menschen auf ihn, wird aus seinen Reden zitiert, ist der Titel eines seiner Bücher „Links und frei“ für Sozialdemokraten zu einem Lebensmotto geworden. Besonders die Kriegs- und Nachkriegsgeneration hörte nie auf, ihm dankbar zu sein.

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Autor*in
Renate Faerber-Husemann

(† 2023) war freie Journalistin in Bonn und Erhard-Eppler-Biografin.

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