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Europas Aufrüstung: „Wir können es uns nicht leisten, lange zu warten“

Die sicherheitspolitische Zeitenwende müssen die EU-Länder solidarisch umsetzen, sagt der SPD-Europaabgeordnete Tobias Cremer im Interview. Angesichts der veränderten Lage habe Europa bei der Stärkung seiner Verteidigungsfähigkeit keine Zeit zu verlieren.

von Nils Michaelis · 5. März 2025
Ein Leopard-Panzer bei einer Truppenübung

Der europäische Pfeiler der Nato: Ein Leopard-Panzer bei einer gemeinsamen Truppenübung von Norwegen, Tschechien und Deutschland.

Einige EU-Länder, darunter auch Deutschland, wollen deutlich mehr Geld in die Rüstung zu stecken. Braucht es überhaupt noch Ursula von der Leyens 800-Milliarden-Plan?

Ja. Der wichtigste Aspekt in von der Leyens Vorschlag besteht darin, die Schuldenregeln für die EU-Mitgliedstaaten für Verteidigungsausgaben zu lockern und hierdurch große Investitionssummen aus den nationalen Haushalten freizusetzen. Dieser Vorschlag ist für viele EU-Länder die Voraussetzung dafür, künftig mehr in ihre Verteidigung investieren zu können. 

Doch es braucht zusätzliche Maßnahmen auf EU-Ebene: Denn Deutschland und Dänemark können beispielsweise kurzfristig mehr Geld auf den Finanzmärkten aufnehmen, andere Länder hingegen nicht. Angesichts der größten geopolitischen Bedrohungslage für Europa seit dem Zweiten Weltkrieg können wir es uns aber nicht leisten, lange zu warten. Wir müssen daher auch beispielsweise Ländern in Südeuropa die Chance geben, jetzt schnell Geld in die Verteidigung zu investieren. 

Mit gemeinsamen europäischen Mitteln, die ebenfalls vorgeschlagen worden sind, kann in Europa zusätzlich eine Hebelwirkung erzeugt werden. So können sie als Anreize für die gemeinsame Beschaffung von Waffen und Ausrüstung genutzt werden. Das erhöht die Effizienz und senkt die die Kosten.

Wie nachhaltig ist ein Volumen von 800 Milliarden, das auf 27 EU-Mitgliedsstaaten aufgeteilt werden muss?

Man muss unterscheiden zwischen der Gesamtsumme und den darin enthaltenen 150 Milliarden, die als direkte Unterstützung vorgesehen sind. Hier geht es darum, den finanziellen Spielraum für alle Mitgliedsländer zu erweitern und Projekte von besonderem gemeinsamem europäischen Interesse zu fördern. Die Ausnahme von den Schuldenregeln wird zusätzlich jedem EU-Mitgliedstaat individuell helfen, seine Rüstungsausgaben zu erhöhen.

Sie haben gesagt, das 800-Milliarden-Programm müsse in einer umfassenderen Investitionsstrategie eingebettet sein, die nicht nur die militärischen Fähigkeiten, sondern auch die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit und soziale Resilienz Europas stärkt. Was genau ist damit gemeint? 

Die SPD verfolgt einen ganzheitlichen Sicherheitsbegriff. Gerade in Zeiten von hybrider Kriegsführung sind Investitionen in den sozialen Zusammenhalt und gesellschaftliche Resilienz ein ebenso elementarer Aspekt von Sicherheit wie militärische Fähigkeiten. Was macht Europa denn so besonders? Das ist unser Sozialmodell, das müssen wir verteidigen. Auch weil es die vielleicht größte Quelle unserer europäischen Soft Power auf der Welt ist. Dieses basiert wiederum auch auf wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit, in die wir viel zu lange nicht investiert haben. 

Für all dies braucht es einen handlungsfähigen Staat. Deswegen ist es gut und richtig, dass Union und SPD jetzt auf deutscher Ebene ein 500 Milliarden umfassendes Sondervermögen auf den Weg gebracht haben. Eine ähnliche Herangehensweise ist auf europäischer Ebene notwendig. Wir brauchen Investitionen in den sozialen Zusammenhalt, in Infrastruktur und in die Verteidigung. Den langfristigen Erfolg eines solchen Ansatzes zeigt etwa Finnland, das schon lange mit der russischen Bedrohung lebt und neben einem effektiven Militär auch eine starke Sozialstruktur und Solidaritätskultur hat, die die finnische Gesellschaft sehr resilient gegen russische Einflussnahme macht.

Sicherheit im Blick

Tobias Cremer ist seit dem Jahr 2024 SPD-Europaabgeordneter. Der 32-Jährige gehört dem Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten und dem Unterausschuss für Sicherheit und Verteidigung an.

Der SPD-Europaabgeordnete Tobias Cremer

Auf welche EU-Staaten zielt der 150 Milliarden-Fonds für direkte Unterstützungsleistungen besonders ab? 

Südliche EU-Länder wie Italien oder Spanien haben einen vergleichsweise kleinen Wehretat, letztendlich könnten aber alle Staaten der EU von den Zuschüssen und der damit verbundenen Hebelwirkung profitieren. Denn hiermit sollen Rüstungsprojekte unterstützt werden, die in besonderem Maße von gesamteuropäischem Interesse sind. 

Die europäische Zeitenwende ist eine gemeinsame Herausforderung, die wir solidarisch lösen müssen, sowohl auf europäischer als auch auf nationaler Ebene. Ursula von der Leyens Vorschläge sind ein guter erster Schritt, um zu zeigen, dass kein EU-Mitglied im Stich gelassen wird und wir zusammen agieren wollen.

In welche Bereiche der militärischen Verteidigung muss Europa besonders viel investieren?

In der Verteidigungspolitik haben wir zu lange in alten Mustern gedacht und nur neue Panzer oder Flugzeuge im Blick gehabt. Die sind wichtig, doch heute werden Kriege auch mit Drohnen oder im Cyberspace geführt. Auch dort müssen wir abwehrbereit sein und mehr investieren. 

Ich war zum Beispiel letzte Woche in der Ukraine. Dort wurde mehrfach betont, dass es viel kosteneffizienter ist, feindliche Drohnen durch elektronische Maßnahmen auszuschalten als zu versuchen sie mit komplexer Luftabwehr abzuschießen, deren Munition oft teurer ist als die Drohne selbst. Bei elektronischer Kriegsführung kann die EU also von der Ukraine lernen. 

Darüber hinaus geht es jetzt auch darum, die Verteidigungsindustrie fit für das 21. Jahrhundert zu machen, etwa über die klarere Standardisierung von Waffensystemen, und über einen echten europäischen Binnenmarkt für Verteidigung zu schaffen.

„Europa muss sich selbst verteidigen können“

Die EU-Kommissionspräsidentin hat einen gemeinsamen europäischen Wehretat vorgeschlagen. Ist das mit Blick auf die vielen Querelen um Sicherheitsfragen nicht illusorisch? 

Dass Europa in der Lage sein muss, sich zu verteidigen, kann niemand wegdiskutieren. Im Zweifel muss es eine Koalition der Willigen sein, denn wir können uns den Luxus, unsere Sicherheit von Ungarns Premier Viktor Orbán abhängig zu machen, nicht mehr leisten. 

Ich hege aber die Hoffnung, dass in dieser historischen Not- und Ausnahmesituation selbst ein Viktor Orbán und ähnlich gelagerte Akteure ihre Blockadehaltung überdenken. Dann nämlich, wenn sie merken, dass wenn die Amerikaner sich aus Europa zurückziehen auch sie auf einmal der russischen Bedrohung schutzlos ausgeliefert sind.  Was haben sie dann von der ideologischen Freundschaft mit Trump, wenn er sie im Fall einer russischen Aggression womöglich im Stich lässt? 

Müsste die EU neben einem gemeinsamen Wehretat nicht auch konsequenterweise eine gemeinsame Armee auf den Weg bringen? Letzteres fordert die Europa-SPD schon länger.

Die Frage ist, was unter einer gemeinsamen europäischen Armee verstanden wird. Eigentlich haben wir sie in Form der Nato längst. Da gibt es gemeinsame Kommandostrukturen, Pläne und Übungen, die sehr gut funktionieren und die man auch nicht so eben mal ersetzen kann. Insofern steht die Schaffung einer Parallelarmee jetzt nicht zur Debatte. 

Gleichzeitig müssen wir aber auch die Nato selbst den neuen geopolitischen Realitäten anpassen. Insbesondere müssen wir innerhalb des Bündnisses den europäischen Pfeiler massiv stärken. Denn Europa muss sich selbst verteidigen können – und zwar unabhängig davon, wer im Weißen Haus sitzt. 

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Gespeichert von max freitag (nicht überprüft) am Mi., 05.03.2025 - 19:53

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nun gilt es, die mit den Sondervermögen von 1000 Mrd im normalen Haushalt gewonnenen Spielräume zum weiteren Aufbau des Sozialstaats zu nutzen, und gegenläufigen Vorstellung der CDSU einen Riegel vorzusetzen

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