Meinung

Warum die nächsten fünf Jahre für die Zeitenwende entscheidend sind

Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 prägte Olaf Scholz den Begriff der „Zeitenwende“. Inzwischen treffen die notwendigen Veränderungen auf unterschiedlichsten Widerstand. Ob die Zeitenwende gelingt, wird sich in den kommenden fünf Jahren zeigen.

von Fabian Funke · 5. Oktober 2024
In den kommenden fünf Jahren wird sich entscheiden, ob die Zeitenwende gelingt, meint der SPD-Bundestagsabgeordnete Fabian Funke.

In den kommenden fünf Jahren wird sich entscheiden, ob die Zeitenwende gelingt, meint der SPD-Bundestagsabgeordnete Fabian Funke.

Als Bundeskanzler Olaf Scholz im Februar 2022 den Begriff „Zeitenwende“ prägte, markierte er einen Bruch mit den alten Überzeugungen deutscher Sicherheitspolitik. Zuvor war es Mehrheitsmeinung in Deutschland, dass Wladimir Putin ein pragmatischer Mann ist, mit dem man Geschäfte machen kann – auch wenn er ein unangenehmer Autokrat ist. Die wenigsten dachten, Putin würde einen großen Krieg beginnen.

Sehr viele Veränderungen in kurzer Zeit

Die Zeitenwende war ein Eingeständnis, dass Deutschland falsch lag. Ein Eingeständnis, dass Sicherheitspolitik in Europa eine zentrale Rolle spielt. Ein Eingeständnis, dass die Abhängigkeit von russischem Gas eine Belastung war – kein Vorteil. Ein Eingeständnis, dass unsere Verbündeten mit ihrer Einschätzung Russlands recht hatten.

Es folgte sehr viel Veränderung in sehr kurzer Zeit. Die Bundeswehr musste nach Jahrzehnten des Personal- und Materialabbaus wieder zur Landes- und Bündnisverteidigung ertüchtigt werden. Das Sondervermögen von 100 Milliarden Euro und das Bekenntnis zum Zwei-Prozent-Ziel der NATO legten dafür den Grundstein.

Um den Wegfall russischer Öl- und Gasimporte zu kompensieren, legte Deutschland seine langjährige Aversion gegenüber LNG ab. Es wurden innerhalb kürzester Zeit Importverträge mit Ländern wie Katar, den USA und Kanada geschlossen und LNG-Terminals gebaut.

Deutschland revidierte ebenfalls seine Politik bezüglich Waffenexporten. Direkte Waffenexporte in aktive Kriegsgebiete wurden zuvor stets zurückgewiesen. Nun wurden Marschflugkörper, gepanzerte Fahrzeuge und Kampfpanzer an die Ukraine geliefert.

Die Zeitenwende erlebt eine Gegenbewegung

Nach den Sofortmaßnahmen der ersten zwei Jahre trifft die Zeitenwende jedoch mittlerweile auf große Herausforderungen.

Deutschland befindet sich mitten in einer Haushaltskrise. Wir benötigen Investitionsprogramme historischen Ausmaßes, sind jedoch aufgrund der Schuldenbremse nicht in der Lage, die dafür benötigten Kredite aufzunehmen. Die Möglichkeit von Sondervermögen sowie die Feststellung einer Notlage wurden vom Bundesverfassungsgericht stark eingeschränkt.

Auch die ideelle Säule der Zeitenwende erlebt eine Gegenbewegung. AfD und BSW fordern einen Stopp von Waffenlieferungen an die Ukraine und die Wiederaufnahme von Gas- Importen aus Russland. Bei den Landtagswahlen im Osten erreichten sie zusammen über 40 Prozent der Stimmen.

Vieles hängt von den äußeren Umständen ab

Ich bezweifele, dass es einen vollständigen Rollback der Zeitenwende geben wird. Die Realität hat sich dafür zu sehr verändert. Jedoch das Tempo und die konkreten politischen Maßnahmen, mit der Deutschland diesen Pfad weiterverfolgt, werden stark davon abhängen, wer regiert. Der zukünftige Pfad der Zeitenwende wird bei der nächsten Bundestagswahl entschieden.

Viel wird auch davon abhängen, ob die EU in den kommenden fünf Jahren in der Lage sein wird, jene Probleme zu adressieren, die kein Mitgliedsstaat allein bewältigen kann.

Die strategischer Autonomie Europas und die transatlantische Partnerschaft müssen ausbalanciert werden. Die Möglichkeit einer zweiten Amtszeit Donald Trumps ist real. Aber auch eine Präsidentschaft von Kamala Harris würde Europa lediglich Zeit kaufen. Europa muss daher seinen Beitrag innerhalb der NATO voll ausfüllen, um auf zukünftige Ausfälle der USA vorbereitet zu sein.

Sicherheitspolitik und Wirtschaftspolitik müssen zusammengedacht werden

Russland und China arbeiten fortwährend daran, demokratische Institutionen zu destabilisieren. Wir müssen aufhören naiv zu sein. Insbesondere China missbraucht die Regeln der freien Marktwirtschaft, um Europa zu schwächen. Denn selbstverständlich sind staatlich subventionierte Unternehmen mit unendlichen finanziellen Ressourcen in der Lage, ihre Wettbewerber im Preiskampf aus dem Markt zu drängen. Die EU und ihre Mitgliedsstaaten reagieren zu langsam. Europa muss robustere Vorkehrungen treffen, um seine Märkte und Unternehmen schützen.

Dafür müssen Sicherheitspolitik und Wirtschaftspolitik zusammengedacht werden. Die Corona-Pandemie, der russische Angriffskrieg und die Inflation haben gezeigt, dass unsere Energieversorgung, Lieferketten und industrielle Basis fragil sind. Die europäische Industrie konkurriert einerseits mit China, andererseits auch mit einer US-Wirtschaft, die durch den Inflation-Reduction-Act revitalisiert wurde. Hier ist eine vorausschauende, gesamteuropäische Industriestrategie gefragt.

Die kommenden fünf Jahre sind entscheidend

Auch die EU-Erweiterung muss ehrlich und konsequent gestaltet werden. Beitritte der sechs Staaten des Westbalkan und der Ukraine, Moldau, Georgien hätten gravierende sicherheitspolitische Auswirkungen. Die EU würde eine massive Landgrenze mit Russland und Belarus sowie eine Präsenz im Kaukasus dazugewinnen. Zudem eine Gruppe von Ländern voller russischer Einflussnahme.

Sowohl die Kandidatenstaaten als auch die EU müssen daher schwere Entscheidungen treffen und bereit sein mit dessen Konsequenzen zu leben. Ein endloser Kandidatenstatus wird niemandem helfen. Die Entwicklung Jahre im Westbalkan hat uns das bereits gezeigt.

Der Begriff Zeitenwende wurde zwar 2022 geprägt, es werden jedoch die nächsten fünf Jahre sein, in denen sich die Zeitenwende tatsächlich vollzieht.

Autor*in
Fabian Funke

ist SPD-Bundestagsabgeordneter aus Sachsen und Mitglied im Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union.

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1 Kommentar

Gespeichert von Rudolf Isfort (nicht überprüft) am So., 06.10.2024 - 19:20

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Wieder eine in letzter Zeit vom Vorwärts so überaus geschätzte Warum-Satz-Überschrift, die zu erklären verspricht, wieso „die nächsten fünf Jahre ... entscheidend“ sein werden.

Der „Überfall Russlands auf die Ukraine“, also die „`Zeitenwende`“, „markierte den Bruch mit den alten Überzeugungen deutscher Sicherheitspolitik“, bislang „Mehrheitsmeinung in Deutschland“, die darum ersetzt wurde durch das „Eingeständnis, dass Deutschland falsch lag“: Ein tollkühner Zusammenhang – Ukraine-Krieg weil Deutschland falsch lag. (Die Einzelheiten der Beweisführung und ihre Kritik erspare ich dem Leser.)

Wie fast immer in der politischen Realität, „erlebt die Zeitenwende eine Gegenbewegung“ in der Sache und in der Idee – „die ideelle Säule der Zeitenwende“ wird durch „AfD und BSW“ herausgefordert, müsste also eigentlich gar nicht beachtet werden, wären da nicht „Landtagswahlen ... (mit zusammen) über 40 Prozent der Stimmen“. Dennoch darf ein „vollständiger Rollback der Zeitenwende“ ausgeschlossen werden, jedoch wird „der zukünftige Pfad der Zeitenwende bei der nächsten Bundestagswahl entschieden“.

„Der zukünftige Pfad der Zeitenwende“, so das europäische „Warum“ Fabian Funkes, muss die „strategische Autonomie Europas und die transatlantische Partnerschaft ausbalancieren“, sollte „Sicherheitspolitik und Wirtschaftspolitik zusammen denken“ und darum - jetzt kommt China als zweiter Bösewicht ins Spiel - „robustere Vorkehrungen treffen, um seine Märkte und Unternehmen zu schützen“.

Das Entscheidende der „kommenden fünf Jahre“ ist aber die „EU-Erweiterung“ – Vorstufe der Nato-Erweiterung - die darum „ehrlich und konsequent gestaltet werden muss“. „Ehrlich“ meint, die „Beitritte ... der Ukraine, Moldau, Georgien hätten gravierende sicherheitspolitische Auswirkungen“, weil die EU dann eine „massive Landgrenze mit Russland und Belarus sowie eine Präsenz im Kaukasus dazugewinnen“ würde. „Ehrlich“ sollte aber auch bedeuten, dass die Russische Föderation in einer solchen EU- und Nato-Osterweiterung auch für sich „gravierende sicherheitspolitische Auswirkungen“ durch die dann „massive Landgrenze“ mit EU und Nato erkennt. Da Russland eine ganz andere strategische Sicht auf die EU- und Nato-Osterweiterung hat als Europa, die wir aber nicht akzetiert haben, ist eine dramatische „Konsequenz“ ja bereits eingetreten: der blutige Krieg Russlands und NATO/ EU um die Ukraine, der aus dem Ruder zu laufen droht mit der Folge, dass Europa dann nahezu unbewohnbar sein wird. Das zeigt nicht zuletzt die Neujustierung der russischen Atomdoktrin, die jedem Beobachter hätte klar sein müssen: Eine Atommacht, die konventionell besiegt zu werden droht, wird ihre Schwelle für den Atomwaffeneinsatz niedriger setzen. (Jeder, der Abschreckung für eine vernünftige Sicherheitsdoktrin hält, muss das so sehen.)

Die „kommenden entscheidenden fünf Jahre“ sollten dazu genutzt werden, die wirklichen Fehler deutscher Sicherheitspolitik der letzten dreißig Jahre aufzuarbeiten. Fabian Funke hat das Konfliktsystem, das zum Krieg in Europa führte, nicht identifiziert. Wie sollte er es deshalb nachhaltig auflösen und die „notwendigen Veränderungen“ bewirken können.

Das Schicksal hat uns unabänderlich an Russland gekettet, wir müssen mit unserem Nachbarn ein gegenseitig akzeptiertes Verhältnis hinbekommen – alternativlos.