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Nahostkonflikt: „Es fehlt das Bewusstsein für das Leid der anderen“

Die humanitäre Situation im Gaza-Streifen spitzt sich zu. Ein Ende des Konflikts mit Israel ist nicht in Sicht. „Das eigene Leid versperrt den Blick auf den Schmerz der anderen“, sagt Daniela De Ridder. Die Vizepräsidentin der Parlamentarischen Versammlung der OSZE wirbt für eine diplomatische Lösung.

von Kai Doering · 19. November 2024
Geflüchtete im Gaza-Streifen: Ohne Empathiefähigkeit ist es sehr schwierig, zwischen beiden Seiten zu vermitteln.

Geflüchtete im Gaza-Streifen: Ohne Empathiefähigkeit ist es sehr schwierig, zwischen beiden Seiten zu vermitteln.

Ein gutes Jahr nach dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober eskaliert die Situation in der Region immer mehr. Wie groß ist Ihre Sorge, dass sich der Krieg im Nahen Osten weiter auswächst?

Die Situation im Nahen Osten ist hochgefährlich. Die Bilder, die uns täglich über die Medien präsentiert werden, zeigen, wie angespannt die Lage ist. Die Konflikte konzentrieren sich ja längst nicht mehr auf den Gaza-Streifen wie zu Anfang der israelischen Militäroffensive gegen die Hamas. Es gibt unterschiedliche Szenarien, wie es weitergehen könnte. Darüber möchte ich gar nicht spekulieren. Was mich besonders schmerzt, ist die humanitäre Situation in den palästinensischen Gebieten, aber auch im Libanon, die sich von Tag zu Tag verschlimmert.

Sie waren im September in Israel und im Westjordanland. Wie wird die Situation dort eingeschätzt?

In die Zeit meines Besuchs fiel das Auffinden von sechs Geiseln, die von der Hamas ermordet wurden. Dieser herbe Rückschlag hat gleichzeitig die Hoffnung bei den Familien, die noch Angehörige vermissen, sehr genährt, dass ihre Familienmitglieder noch leben könnten. Denn die Ermordeten waren ja erst kurz zuvor getötet worden. 

Es gibt in Tel Aviv, unweit des großen Kunstmuseums, ein internationales Zentrum, wo man hingehen kann und sich über das Schicksal der Geiseln erkundigen kann. Ich habe dort eindrucksvolle Gespräche geführt, etwa mit Michael Levy, einem der führenden Köpfe von TikTok in Israel, der seinen Bruder vermisst. Er hat inzwischen seinen Beruf aufgegeben, um sich dafür einsetzen zu können, dass die restlichen Geiseln freikommen. Leider lässt die Hoffnung von Tag zu Tag nach – auch in die Regierung Netanjahu. Das war rund um den Jahrestag sehr spürbar.

Daniela
De Ridder

Es wird kein anderes Mittel geben als die Diplomatie.

Und wie ist die Lage in den palästinensischen Gebieten?

Ich habe Gelegenheit gehabt, mit dem Gesundheitsminister Majid Abu Ramadan und der Gouverneurin von Ramallah Laila Ghannam zu sprechen und anderen Politikerinnen, auch einer Politikerin, die Yassir Arafat sehr nahestand. Dort sieht man das Leid der Israelis durchaus, aber sie versuchen den Blick eher auf das aus ihrer Sicht viel größere Leid in Gaza und in der Westbank zu lenken. Es fehlt auf beiden Seiten das Bewusstsein für das Leid der jeweils anderen. Ohne diese Empathiefähigkeit ist es aber sehr schwierig, zwischen beiden Seiten zu vermitteln. Das eigene Leid versperrt den Blick auf den Schmerz der anderen.

Der Konflikt im Nahen Osten war auch das bestimmende Thema bei der Herbsttagung der Parlamentarischen Versammlung der OSZE im Oktober. Welche Chancen sieht man hier, den Konflikt noch diplomatisch beizulegen?

Es wird kein anderes Mittel geben als die Diplomatie. Auch deshalb bin ich nach Israel gereist, um zu zeigen, dass die Schicksale der Menschen auf beiden Seiten gesehen werden und um für gegenseitiges Verständnis zu werben. In meiner Rede bei der Herbsttagung habe ich auch sehr deutlich gemacht, dass wir das Leid sowohl der Israelis als auch der Palästinenser anerkennen müssen. 

Ich habe zum Beispiel überhaupt kein Verständnis, dass immer – vollkommen zu Recht – sexualisierte Gewalt als Kriegswaffe kritisiert wird, aber niemand über die Gräueltaten spricht, die jungen Frauen von der Hamas angetan wurden. Mahatma Gandhi hat mal sehr treffend gesagt: Auge um Auge – und die ganze Welt wird blind. Wir müssen deshalb diesen Kreislauf der Gewalt dringend durchbrechen. Und da sehe ich auch die Aufgabe der OSZE.

Daniela
De Ridder

Die Bedeutung der OSZE hat in den letzten Jahren definitiv zugenommen, auch über die Grenzen Europas hinaus.

Als Vorsitzende des Ad-hoc-Migrationskommittees der OSZE haben Sie die humanitäre Situation besonders im Blick. Wie bewerten Sie die Entscheidung des israelischen Parlaments, dass das Palästinenser-Hilfswerk ab dem kommenden Jahr nicht mehr auf israelischem Staatsgebiet arbeiten darf?

Das ist eine ganz unglückliche Entwicklung. Um die humanitäre Hilfe im Gaza-Streifen zu gewährleisten, brauchen wir das UNRWA. Die Arbeit de facto zu verbieten, ist aus meiner Sicht auch nicht verhältnismäßig, da es eine intensive Untersuchung gegeben hat, welche Mitarbeiter möglicherweise mit der Hamas zusammengearbeitet haben. Und die wurden mittlerweile entlassen. 

Im Sommer ist im Gaza-Streifen Polio ausgebrochen. Viele Kinder, die gestorben sind, hätten gerettet werden können, hätten sie rechtzeitig eine Impfung erhalten. All das wird noch schwieriger, wenn das UNRWA nicht mehr arbeiten kann. Das führt am Ende nur zu noch mehr Wut und Feindseligkeit, die sich in neuer Gewalt entladen könnte.

Die OSZE wurde 1975 als Staatenkonferenz zur Friedenssicherung gegründet, damals noch als KSZE. Welche Bedeutung hat die Organisation heute, da wieder ein Krieg mitten in Europa tobt?

Die Bedeutung der OSZE hat in den letzten Jahren definitiv zugenommen, auch über die Grenzen Europas hinaus. Das Thema Migration spielt eine ganz entscheidende Rolle, etwa wenn man sich die Flüchtlingsbewegungen über das Mittelmeer ansieht. 

Als Sozialdemokratin sehe ich mich auch in der Tradition von Willy Brandt und Egon Bahr, den Gründungsvätern der KSZE. Ihnen sind wir es schuldig, ihren Auftrag anzunehmen und die Friedenssicherung weiter zu betreiben – und zwar in einem breiten Sinne. 

Willy Brandt hat völlig zu Recht gesagt, dass Frieden mehr ist als nur die Abwesenheit von Krieg. Es geht auch um Fragen der inneren und der sozialen Sicherheit. Und die können wir nur aufrechterhalten, wenn Menschen einander kennen und verstehen. Das ist eine der zentralen Aufgaben der OSZE. Und von der will ich auch nicht lassen.

Daniela De Ridder

ist SPD-Bundestagsabgeordnete, Vizepräsidentin der Parlamentarischen Versammlung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE PV) und Vorsitzende des Ad-hoc-Komitees für Migration.

Daniela De Ridder
Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

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1 Kommentar

Gespeichert von Armin Christ (nicht überprüft) am Mi., 20.11.2024 - 17:20

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Es ist heute schwer da öffentlich Stellung zu beziehen, denn allzuschnell hat man der Vorwurf des Antisemitismus am Hals.
Unzweifelhaft waren die Taten der Hamas am 7.10.2023 mörderischer Terrorismus den man nur verurteilen kann, aber rechtferigt das den Tod von zehntausenden von Palästinenser und anderen Arabern ?
Frieden muss her, und das nicht nur in dieser Weltgegend !