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Widerlegt: Fünf Mythen über das Bürgergeld im Faktencheck

Seit Wochen steht das Bürgergeld unter massivem Beschuss von AfD, CDU und CSU sowie einigen Medien. Dabei werden auch viele Unwahrheiten verbreitet. Wir widerlegen die fünf, die am meisten verbreitet sind.

von Carl-Friedrich Höck · 9. August 2024
Gute Arbeit statt Hilfsjobs: Das ist der Grundgedanke des Bürgergelds.

Gute Arbeit statt Hilfsjobs: Das ist der Grundgedanke des Bürgergelds.

Die Jagd ist eröffnet. Seit Wochen steht das Bürgergeld von AfD, CDU und CSU sowie einigen Medien unter massivem Beschuss. Zusätzlich angeheizt wurde die Debatte von CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann, der forderte, mehr als 100.000 Menschen das Bürgergeld komplett zu streichen. Wir haben uns die fünf am meisten verbreiteten Mythen über das Bürgergeld genauer angesehen und entkräften sie hier.

Aussage 1: „Mit Bürgergeld bekommt man mehr Geld als ein Mindestlohnempfänger.“

Marcel Fratzscher, Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, weist diese These in einer aktuellen Kolumne für die Wochenzeitung Die Zeit zurück: „Die Behauptung ist schlichtweg falsch, denn auch Menschen mit Niedriglohn stehen Sozialleistungen zu und haben dadurch immer und in jeder Konstellation – von einem Single bis hin zu einer Großfamilie – mehr Geld als Menschen im Bürgergeld.“ Diverse Berechnungen stützen Fratzschers These.

Laut dem DIW-Chef stimmt es auch nicht, dass der Abstand zwischen Bürgergeld und Arbeitslohn kleiner geworden sei, wie viele behaupten. Denn die Berechnung des Bürgergeldes sei an die Entwicklung des Niedriglohnsektors gekoppelt. Seit Einführung des Mindestlohns seien die Niedriglohn-Einkommen sogar schneller gewachsen als die Bezüge im Bürgergeld.

Aussage 2: „Zu viele Ausländer*innen bekommen Bürgergeld.“

Tatsächlich hat ein hoher Anteil der Bürgergeldbezieher*innen keine deutsche Staatsbürgerschaft. Der Migrationsmonitor der Bundesagentur für Arbeit weist für April 2024 insgesamt 5,55 Millionen Regelleistungsberechtigte aus, also Bürgergeldbeziehende. Davon sind 2,89 Millionen Deutsche und 2,66 Millionen Ausländer*innen. Von diesen stammen rund 400.000 aus EU-Staaten.

Ein großer Teil der Ausländer*innen, die Bürgergeld beziehen sind Ukrainer*innen – laut Bundesregierung rund 1,17 Millionen Menschen. Mehrheitlich handelt es sich um Kinder und (oft alleinerziehende) Frauen, da wehrpflichtige Männer die Ukraine nicht verlassen dürfen. Dass so viele Ukrainer*innen Bürgergeld erhalten, liegt unter anderem an einer Entscheidung der EU aus dem Jahr 2022, für Ukrainer*innen die sogenannte Massenzustrom-Richtlinie zu aktivieren. In der Folge mussten Menschen aus der Ukraine kein aufwendiges Asylverfahren durchlaufen, sondern erhielten sofort Zugang zum Arbeitsmarkt – und auch zum Bürgergeld. 

Damit wurden zugleich die kommunalen Ausländerbehörden und das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) entlastet. Ihnen blieben hunderttausende Verfahren erspart. Auf die Jobcenter kam dagegen mehr Arbeit zu, denn sie sind nun auch dafür zuständig, erwerbsfähige Ukrainer*innen in Arbeit zu vermitteln.

Übrigens: Wenn man von den ukrainischen Bürgergeldbeziehenden diejenigen abzieht, die minderjährig, in Ausbildung oder Schule sind oder bereits arbeiten und ihr Gehalt mit Bürgergeld aufstocken, bleiben weniger als 190.000 übrig.

Aussage 3: „Arbeitsunwillige Bürgergeldempfänger*innen müssen stärker sanktioniert werden.“

Mit der Frage, was Sanktionen tatsächlich bewirken, hat sich eine aktuelle Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung befasst. Dafür wurden Daten aus dem Jahren 2012 bis 2015 ausgewertet, also vor Einführung des Bürgergeldes. Die Analyse ergab: Tatsächlich können Jobcenter ihre Erfolgsquote bei der Arbeitsvermittlung steigern, indem sie gelegentlich Sanktionen androhen („Ex-ante-Effekt“). Bei einer zu repressiven Sanktionspolitik steigt aber die Wahrscheinlichkeit, dass die Jobcenter-Kund*innen schlechte Jobs annehmen und ihr Einkommen sinkt. Empfohlen wird deshalb ein moderater Mittelweg.

Nach aktueller Rechtslage können zehn bis 30 Prozent des Bürgergeldes vorübergehend gestrichen werden, wenn jemand seinen Pflichten zur Zusammenarbeit mit dem Jobcenter nicht nachkommt. Wer eine zumutbare Arbeit dauerhaft ablehnt, dem kann das Bürgergeld sogar zwei Monate lang komplett gestrichen werden.

Für härtere Sanktionen hat das Bundesverfassungsgericht enge Grenzen gesetzt, in einem Urteil aus dem Jahr 2019. Wenn der Gesetzgeber existenzsichernde Leistungen vorübergehend entziehe, unterliege das „strengen Anforderungen der Verhältnismäßigkeit“, stellte das Gericht damals klar. Zum Beispiel müssten verlässliche Prognosen vorliegen, ob die Sanktionen auch die gewünschte Wirkung entfalten.

Aussage 4: „Das Bürgergeld ist für den Staat zu teuer geworden.“

Die Bundesagentur für Arbeit hat im Jahr 2023 laut Bundesregierung rund 42,6 Milliarden Euro für die Zahlungsansprüche von Bürgergeld-Beziehenden ausgegeben. Zum Vergleich: Die Gesamtausgaben des Bundes im Jahr 2023 betrugen 613,9 Milliarden Euro. Das Bürgergeld macht also weniger als sieben Prozent des Bundeshaushaltes aus.

Sozialleistungen wie das Bürgergeld belasten aber nicht nur den Bundeshaushalt, sondern auch die Kommunen. Für die Kosten von Unterkunft und Heizung nach Sozialgesetzbuch II (das unter anderem das Bürgergeld regelt) mussten die Kommunen im vergangenen Jahr 14,48 Milliarden Euro aufwenden. Das waren 14,7 Prozent mehr als im Vorjahr, so das Statistische Bundesamt. Hier machten sich die gestiegenen Energiekosten bemerkbar. Im Gegenzug stieg die Beteiligung des Bundes an den Kosten der Unterkunft und Heizung um 19,0 Prozent auf 9,4 Milliarden Euro.

Das Bürgergeld ist nur eine von vielen Sozialleistungen in Deutschland. Im internationalen Vergleich der OECD-Länder sind die Sozialausgaben in Deutschland weder besonders hoch, noch sind sie in den vergangenen zwei Jahrzehnten überdurchschnittlich gewachsen. Das zeigt eine Analyse des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK), die im Februar veröffentlicht wurde. Allerdings mussten die Forscher*innen zum Teil auf ältere Daten aus dem Jahr 2019 zurückgreifen. Der deutsche Anteil staatlicher Sozialausgaben am Bruttoinlandsprodukt lag da bei 26,7 Prozent. Das bedeutete einen Platz im oberen Mittelfeld. Frankreich und Italien kamen auf mehr als 30 Prozent Sozialausgaben.

Aussage 5: „Das Bürgergeld trägt nicht dazu bei, mehr Menschen in Arbeit zu vermitteln.“

Mit der Einführung des Bürgergeldes hat die Bundesregierung einen Paradigmenwechsel vollzogen. Kund*innen und Jobcenter sollen sich „auf Augenhöhe“ begegnen, heißt es etwa auf der Internetseite des Bundesarbeitsministeriums. Ein zweiter Grundsatz lautet: Gute Arbeit statt Hilfsjobs! Bürgergeldbeziehende sollen sich lieber weiterqualifizieren, als die erstbeste freie Stelle anzunehmen. Dieser Ansatz braucht aber mehr Zeit, bis er wirkt.

Das Bürgergeld wurde zum Januar 2023 eingeführt. Inwiefern der neue Vermittlungsansatz mittelfristig funktioniert, lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt kaum stichhaltig überprüfen. Im Juli 2024 gab es nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit 2,81 Millionen Arbeitslose, knapp 190.000 mehr als im Vorjahresmonat. Das ist aber wohl weniger auf das Bürgergeld zurückzuführen als auf eine schwache Wirtschaftsentwicklung.

Der Erfolg des neuen Vermittlungsansatzes wird auch davon abhängen, wie gut die Jobcenter finanziell und personell ausgestattet sind. Darauf haben der Deutsche Städtetag, der Deutsche Landkreistag und die Bundesagentur für Arbeit in einer gemeinsamen Pressemitteilung aufmerksam gemacht. Am 25. Juni erklärten sie: „Im vergangenen Jahr unterstützten die Jobcenter mehr als 650.000 Bürgergeldempfängerinnen und -empfänger bei der Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung, mehr als die Hälfte von ihnen konnten ihren Leistungsbezug dadurch vollständig beenden. Das ist vor allem durch eine intensive und engmaschige Betreuung und Beratung gelungen. Um dies auch zukünftig gewährleisten zu können, sind verlässliche und auskömmliche Finanzmittel notwendig.“

Der Text erschien zuerst auf demo-online.de.

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Carl-Friedrich Höck

arbeitet als Redakteur für die DEMO – die sozialdemokratische Fachzeitschrift für Kommunalpolitik.

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1 Kommentar

Gespeichert von Martin Holzer (nicht überprüft) am Fr., 09.08.2024 - 15:16

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"Davon sind 2,89 Millionen Deutsche und 2,66 Millionen Ausländer*innen"

Gibt es eigentlich irgend ein anderes Land, in dem so viele Ausländern Geld ohne Gegenleistung erhalten oder geht Deutschland hier wieder einen Sonderweg?