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Nach der Wahl: Was der Erdrutschsieg von Labour für Großbritannien bedeutet

Großbritannien hat eine neue Regierung: Die konservativen Tories wurden nach 14 Jahren Regierungszeit mit einer historischen Niederlage abgestraft. Labour-Chef Keir Starmer steht nun als zukünftiger Premierminister vor großen Herausforderungen.

von Michèle Auga · 5. Juli 2024
Trotz einem historischen Sieg für seine Partei steht Labour-Chef Keir Starmer nun vor großen Herausforderungen.

Trotz einem historischen Sieg für seine Partei steht Labour-Chef Keir Starmer nun vor großen Herausforderungen.

Großbritannien hat gewählt. Noch vor Bekanntgabe des amtlichen Endergebnisses ist klar: Die Labour Party unter Keir Starmer hat einen historischen Sieg errungen und wird aller Voraussicht nach über 400 der 650 Sitze im Unterhaus zugesprochen bekommen. Eine satte Mehrheit.

Die Konservative Partei ist dagegen unter der Wucht der Gegenstimmen völlig zusammengebrochen. Im Vergleich zur letzten Wahl 2019 verlor sie rund 20 Prozentpunkte und muss zukünftig auf der Oppositionsbank Platz nehmen.

Das populistische Lager ist gespalten

Bis zu 15 Prozent verloren die Tories dabei an die ehemalige Brexit-Partei Reform UK. Das bewusst späte Auftreten Nigel Farages, der erst 14 Tage nach Beginn der Kampagne in das Rennen einstieg, spaltete das populistische Lager, kostete die Tories weitere Stimmen und hat den Populismus in Großbritannien damit bis auf Weiteres in seine Schranken verwiesen.

Er ist kanalisiert und mit vier Sitzen der Reform UK-Partei und einigen verbleibenden rechtspopulistischen Stimmen bei den Tories wie der ehemaligen Innenministerin Suella Braverman in einer neuen Rumpf-Tory-Fraktion eingehegt. Nigel Farages Partei wird jedoch ein populistischer Stachel im Fleisch der Tories bleiben. Aber auch für die Labour Party bleibt seine Bewegung, die aus dem Stand beinahe 15 Prozent der Stimmen holen konnte, eine Herausforderung.

Rekordsiege für die Labour-Partei

Vom Norden bis in den Süden Englands, in Wahlkreisen wie North Shropshire oder South Swinden, in denen traditionell konservativ gewählt wurde, erzielte Labour zum Teil bis zu 20 Prozentpunkte Vorsprung. Zudem gaben in manchen dieser Wahlkreise taktisch wählende Bürgerinnen und Bürger ihre Stimme den Liberaldemokraten, die mit rund zwölf Prozent der Stimmen über 70 Sitze gewinnen konnten.

Bestätigt wird der Trend in Schottland. Die eher im linken Spektrum anzusiedelnde, aber nicht weniger populistisch agierende Schottische Nationalpartei hat das Leben der Menschen nördlich des Hadrianswall in 17 Jahren Regierungszeit nicht verbessern können, sondern sich mit einem Korruptionsskandal diskreditiert. Sie erhielt unter drei Prozent aller landesweit abgegebenen Stimmen und verliert in Westminster fast 40 Sitze. Auch Schottland vertraut nun wieder der Labour Party.

Populismus wie aus dem Lehrbuch

Wie in einem Lehrbuch hatten die Tories und mit ihr die britische Demokratie seit 2010 eine stetige und graduelle Entwicklung hin zum Populismus durchlaufen. Entstehung einer Bewegung (Brexit) als Produkt einer Modernisierungskrise? Check. Eine gestörte soziale Balance? Check. Instrumentalisierung von „Identität“ als Schlüsselthema? Check.

Allen Populisten in Europa gemeinsam ist ihre Abwehrhaltung gegenüber der europäischen Integration. Seit der Regierungsübernahme der Tories 2010, nur zwei Jahre nach der Finanz- und Eurokrise wurde „die EU“ auch in Großbritannien zum wichtigsten Anti-Thema der Rechts-, aber auch Linkspopulisten wie Jeremy Corbyn.

Die Auswirkungen der auf die Krise folgenden Austerität, der verpasste Strukturwandel im Norden und die negativen Folgen der Globalisierung wie die steigende Lohnkonkurrenz ließen sich perfekt instrumentalisieren, um gegen „das Establishment“ in London oder Brüssel zu mobilisieren.

Betonung der Souveränität

Immer wieder legten die konservativen Regierungschefs Boris Johnson, Liz Truss und auch Rishi Sunak den Finger in die Wunde und unterstrichen die vermeintlich verlorenen Handlungsspielräume des ehemals souveränen Staates, bis sich Teile der Gesellschaft tatsächlich nicht mehr ausreichend repräsentiert fühlten.

Das britische Engagement auf der supra- und transnationalen Ebene wurde nicht als Gewinn-, sondern als Verlustrechnung aufgemacht. Demokratische Kontrolle sollte wieder ausschließlich im nationalstaatlichen Rahmen ihren Platz einnehmen. In dieser Frage war man sich sogar mit Teilen der Labour Party einig. Bis heute hat die EU tatsächlich keine Antwort auf diese Repräsentationslücke gefunden.

Sunak, dem Letzten in der Riege dieser Tory-Ära, fehlte das Charisma, das eine populistische Bewegung benötigt. Dennoch bediente er das Narrativ, die Tories seien eigentlich eine Anti-Parteien-Kraft. Als er – trotz der 14 Jahre Regierungszeit seiner Partei – mit dem Motto des „Wandels“ antrat, kam der Populismus-Motor zum Stehen.

Auch das Wahlrecht spielte eine Rolle

Im Unterschied zu Deutschland, durchlief das Vereinigte Königreich keine der üblichen Strategiephasen der anderen etablierten Parteien wie die strikte Ausgrenzung, thematische oder rhetorische Anpassung oder gar förmliche Zusammenarbeit in Koalitionen. Das Mehrheitswahlrecht im Vereinigten Königreich schafft andere Voraussetzungen. Das populistische Experiment wurde vom Anfang bis zum bitteren Ende durchlaufen und mit der Wahl am 4. Juli drastisch beendet. Der Verlust von knapp 250 Sitzen für die Konservative Partei gleicht einer Abrechnung.

Keine andere Strategie hätte den Wählerzuspruch der Populisten auf der Insel dauerhaft sinken lassen können, als der Geschichte ihren Lauf zu lassen. Das System des First past the post schafft traditionell andere Klarheiten. Die Bevölkerung hatte eine populistische Partei an die Macht befördert, jetzt hat sie sie abgestraft. Der wirtschaftliche und soziale Schaden jedoch ist immens.

Labour wurde überwiegend aus Protest gewählt

Beide Wahlerfolge, Boris Johnsons Triumph 2019 und Keir Starmers historischer Sieg 2024 waren Erdrutschsiege. Sie wirkten wie ein digitaler Hebel: an – aus. Allerdings war es nicht das überzeugende Programm der Labour Party, das die Menschen bewog, ihr die Stimme zu geben. „Was würden Sie sagen, ist der wichtigste Grund, weshalb sie für Labour stimmen?“, fragte YouGov vor der Wahl. „To get the Tories out“ – um die Tories loszuwerden, lautete die überwiegende Antwort der Befragten.

Es bleibt abzuwarten, welchen Weg die „abgestraften“ Tories nun einschlagen werden. Gelingt ein Neuaufbau in der Opposition unter den moderaten Kräften wie Jeremy Hunt oder James Cleverly frei nach dem Motto „Zurück zu den Wurzeln“? Oder erliegt man dem „Charme“ eines Nigel Farage und sucht den Schulterschluss mit dem Rechtspopulisten?

Die 800 Jahre alte Demokratie des Vereinigten Königreichs hat sich als resilient erwiesen. In den nächsten zehn Jahren wird keiner der Akteure, die für Broken Britain, für das „gebrochene Großbritannien“, verantwortlich sind, wieder auf der Regierungsbank Platz nehmen.

Keir Stamer muss sich nun beweisen

Was bleibt vom populistischen Experiment? Es hat Repräsentationsdefizite in der britischen Politik offengelegt, an denen Keir Starmers Partei arbeiten muss. Er wird sich nicht ausruhen und darauf vertrauen können, dass eine nachwachsende, vom Brexit enttäuschte und in einem ausgelaugten Staat lebende Jugend einfach darauf vertrauen werde, dass die Dinge irgendwann besser werden. Nicht nur die Konservativen, auch die Labour Party waren zu Korrekturen gezwungen und werden dazu beitragen müssen, das System wieder in eine Balance zu bringen.

Nach dem Willen Starmers, des Anti-Populisten, soll Sachpolitik wieder in den Vordergrund rücken. „Stabilität ist Wandel“, heißt nun das nicht sehr revolutionär klingende Programm. Man wolle „nicht predigen, sondern zuhören“, so Generalsekretär David Evans. Die Menschen müssten „unmittelbar spüren können“, dass eine Labour-Regierung „den Unterschied in ihrem Leben“ mache.

Nur wenn man das Übel des Populismus an der Wurzel packe, indem man die immensen gesellschaftlichen Probleme löse, könne man erfolgreich sein. Nur durch eine Politik, die den sozialen und wirtschaftlichen Zusammenhalt stärkt und die das Bedürfnis der Menschen nach Zugehörigkeit und nach einer gemeinsamen Identität ernster nimmt als bisher, könne es gelingen, dem Populismus seine Protestgründe wenigstens teilweise zu entziehen.

Fokus auf fünf „Missionen“

Noch nie seit 1908 lag der Stimmenanteil für beide große Parteien so niedrig wie bei dieser Wahl. Diese Warnung muss genügen, um die neue, riesige Labour-Fraktion im Parlament aufeinander einzuschwören und Zusammenhalt herzustellen. „Hoffnung“, so Starmer, „Vertrauen“ und „Zuversicht“ seien das, was die Briten jetzt benötigten.

Im Vordergrund steht die schnelle Umsetzung von insgesamt fünf „Missionen“: saubere Energie, Kriminalitätsbekämpfung, Bildungsförderung, die Reform des staatlichen Gesundheitsdienstes NHS und – am prominentesten – die Förderung des Wirtschaftswachstums mittels einer grünen Industriestrategie.

Die Zukunft bleibt ungewiss

Im Vergleich zu dieser historischen Mehrheit kann Labour ab jetzt bei jeder weiteren Abstimmung eigentlich nur noch verlieren. Noch immer gilt der neue Premier vielen als langweilig. Vielleicht bedarf es jedoch zukünftig gar keiner emotionalen Ansprache nach dem populistischen Lehrbuch, sondern schlicht Statistiken, die nachweisen, dass Labour es besser kann.

Eine EU, die ihren Brexit-Phantom-Schmerz überwindet und nicht kategorisch auf einer starren Drittstaaten-Regelung beharrt, sondern angesichts der geopolitischen Lage in Starmer einen strategischen Partner sieht, wäre ihm bei der Bekämpfung des Populismus sicherlich von großer Hilfe.

Der Sieg von Starmer deutet nicht darauf hin, dass es eine langfristige Neuausrichtung gab, sondern darauf, dass die alten Stammesloyalitäten in Großbritannien, wo die Menschen aus Gewohnheit wählen, nicht mehr so stark sind wie früher. Die britischen Wählerinnen und Wähler sind durchaus bereit, Politiker hart zu verurteilen, wenn man sie für gescheitert hält. Ein erdrutschartiger Sieg bei einer Wahl macht eine Niederlage bei der nächsten daher nicht unmöglich.

Der Text erschien zuerst im IPG-Journal.

Autor*in
Michèle Auga

leitet das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Großbritannien.

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4 Kommentare

Gespeichert von Armin Christ (nicht überprüft) am Fr., 05.07.2024 - 16:23

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Ich habe einen solchen Beitrag in einem früheren Kommentar schon vorausgesagt.
Ja, und die bösen Populisten ! Der schlimmst ist natürlich wieder dieser Jeremy Corbyn, so eine Art britischer Melonchon.
Wenn man unpopuläre Politik macht muss man sich über das Erstarken der Populisten nicht wundern. ...Vielleicht liegt das aber auch am Bildungssystem ?

Gespeichert von Armin Christ (nicht überprüft) am Sa., 06.07.2024 - 18:54

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Von den 20% der Wählerstimmen, die die Torys verloren haben, gingen 13% an die Rechtsradikalen von Farage und der Rest an die Liberalen. Labour hat da nix gewonnen. Das Mehrheitswahlsystem spiegelt das allerdings in Parlamentssitzen nicht wieder.
Der ehemalige Labourvorsitzende Jeremy Corbyn gewann als Unabhängiger allerdings seinen Wahlkreis mit knapp 50% der Wählerstimmen.

Gespeichert von Heinz Schneider (nicht überprüft) am So., 07.07.2024 - 07:07

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verläuft nach den Gesetzen der Schwerkraft von oben nach unten. Labour hat gegenüber den beiden letzten Wahlen in absoluten Zahlen deutliche Stimmenverluste zu verzeichnen.
In relativen Zahlen verlieren die Torys 20%-Punkte, Labour "gewinnt" 2%, Farage aber 15%.
Starmer übrigens verliert in seinem Wahlkreis 17% und 10.000 Stimmen.
Was bleibt, ist europäische Normalität: ein Rechtsrutsch, dessen wesentliche Ursache die zunehmende Bindungsunfähigkeit der marktkonformen Sozialdemokratie ist.