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Proteste in Georgien: Vorreiter auf Abwegen

In kaum einem anderen Land ist die Zustimmung zum EU-Beitritt so hoch wie in Georgien. Doch genau den sehen viele gerade gefährdet, denn die Regierung will Nichtregierungsorganisationen deutlich stärker kontrollieren. Das hat auch innenpolitische Gründe.

von Marcel Röthig · 2. Mai 2024
Zehntausende pro-europäische Demonstrant*innen gehen seit Tagen in der georgischen Hauptstadt Tiflis auf die Straße.

Zehntausende pro-europäische Demonstrant*innen gehen seit Tagen in der georgischen Hauptstadt Tiflis auf die Straße.

Eigentlich ist es noch gar nicht so lange her, dass sich Georgiens jüngere Geschichte als eine mit gutem Ende las: Die junge Demokratie im Südkaukasus hatte als eines der ersten osteuropäischen Länder 2014 ein Assoziierungsabkommen mit der EU unterzeichnet. Seither galt das Land stets als Vorreiter in der Nachbarschaft und als Vorbild für Reformen und gute Regierungsführung. Doch dieser Schein ist längst verblasst.

Zwar gewährte die EU Georgien Ende 2023 den lang ersehnten Status als EU-Beitrittskandidat – jedoch letztlich wohl vor allem aus geopolitischen Erwägungen heraus, weniger basierend auf echten Fortschritten. Denn faktisch hatte Georgien nur zweieinhalb der zwölf Auflagen der EU erfüllt, die eigentlich als Meilensteine auf dem Weg zum Kandidatenstatus zu meistern waren.

Die Gewährung des Beitrittskandidatenstatus war daher auch ein Vertrauensvorschuss an Georgiens Bevölkerung: In kaum einem anderen Land ist die Zustimmung zum EU-Beitritt so hoch wie in Georgien. Vor allem junge Menschen sehen die Zukunft ihres Landes in Europa, der EU-Beitrittswunsch ist sogar in der georgische Verfassung festgehalten.

Reicht Georgiens Regierung der Kandidatenstatus?

Die georgische Führung unter der nationalkonservativen Partei „Georgischer Traum“, deren Gründer und Ehrenvorsitzender der Oligarch Bidsina Iwanischwili ist, hatte sich zuletzt im Glanz des Beitrittskandidatenstatus gesonnt. So war es diese Partei, die seit 2012 alle entscheidenden Reformschritte auf dem Weg dorthin vorangebracht hat. Letztlich hat sie in ihrer langen Regierungszeit dabei sicherlich auch Erwartungen geweckt, die sie nun nicht umsetzen kann.

Wer der EU wirklich beitreten will, muss auch die ganz harten Nüsse anpacken – Stichwort Justizreform und Deoligarchisierung – und somit an der eigenen Machtbasis rütteln. Der Parteivorsitzende Irakli Gharibaschwili hat wohl letztlich ausgedrückt, was viele dachten: Weder sei die EU bereit für die Erweiterung, noch Georgien für die EU. Die Motivation scheint klar: Der Beitrittskandidatenstatus reicht der Regierungspartei offenbar.

Was das „Agentengesetz“ bezwecken soll

Die Ankündigung, ein Gesetz zur „Ausländischen Einflussnahme“ wieder aus der Schublade zu holen, war zuletzt Ursache des Vertrauensbruchs: Im vergangenen Jahr brachten tausende Menschen dieses Vorhaben, welches auf Georgiens vitale Zivilgesellschaft abzielt, eigentlich zu Fall. Der Inhalt: Organisationen, die mehr als 20 Prozent ihrer Projektgelder von internationalen Partnern erhalten, müssen sich registrieren als „Organisation, die die Interessen ausländischer Staaten vertritt“. Die Regierungspartei begründet dies mit dem Gebot der Transparenz und verweist auf europäische Vorbilder.

Allerdings ist in Georgien bereits jetzt ein hohes Maß an Transparenz gegeben und auch der Vergleich hinkt: Einzig in Ungarn gab es ein entsprechendes Vorhaben, welches jedoch vom Europäischen Gerichtshof gekippt wurde. Und was wird letztlich damit bezweckt, wenn eine Umweltorganisation, die ein Projekt mit internationaler Hilfe umsetzt, als Handlanger ausländischer Staaten hingestellt wird? Oder noch besser: Eine Anti-Korruptions-NGO, die sich für die Freiheit der Justiz einsetzt? Handeln diese nicht in ureigenem, georgischem Interesse?

Welche Rolle spielt die Angst vor Moskau?

Die EU droht Georgien, mit dem Durchwinken dieses Gesetzes würde der Beitrittsprozess eingefroren. Und nicht nur das: Auch große Errungenschaften wie die Visafreiheit stünden auf einmal zur Disposition. Im Sog des Agentengesetzes, welches augenscheinlich an ein Rezept aus der russischen Suppenküche erinnert, droht das ganze Werk des „Georgischen Traums“ unter die Räder zu kommen. Georgien würde mehr als zehn Jahre zurückgeworfen – und das in einer Zeit, in der Russland die Grenzen neu zieht.

Auch dies dürfte eine Überlegung dahinter sein: Die georgische Führung scheint darauf zu spekulieren, dass Russland auf die eine oder andere Weise in der Ukraine die Oberhand gewinnt und sich mit gestärktem Selbstbewusstsein auch in anderen Nachbarländern engagiert. Es mit der EU-Integration nicht zu weit zu treiben und Moskau möglichst nicht gegen sich aufzubringen, mag daher auch ein Ausdruck einer georgischen Ur-Angst sein.

Die Präsidentin unterstützt die Proteste

Nur: Es scheint, als habe der „Georgische Traum“ die von ihm in Gang gesetzte Dynamik unterschätzt. Seit Tagen protestieren tausende Menschen friedlich im Zentrum der Hauptstadt Tbilissi. Künstlerinnen und bekannte Sportler wie die georgische Fußballnationalmannschaft – längst Volkshelden, die Georgien auch fußballerisch endlich auf Europas Bühne gehievt haben – solidarisierten sich unlängst mit den Protestierenden. Und Georgiens Präsidentin Salome Surabischwili, eigentlich vom „Georgischen Traum“ ins Amt gebracht, hat sich vor die Proteste gestellt.

Wie sie haben sich viele ehemalige Amts- und Würdenträgerinnen und -träger in den letzten Monaten und Jahren von der Regierungspartei mit ihrer zunehmenden Radikalisierung abgewendet. Dort scheint man auf ein Abflauen der Proteste zu spekulieren, spätestens im Sommer, wenn die Straßen der Hauptstadt ohnehin leergefegt sein werden und man lieber die Fußball-EM schauen wird. Objektiv betrachtet geht es den Menschen in Georgien so gut wie lange nicht. Doch nun geht auch die gewachsene Mittelschicht auf die Straße – eigentlich Profiteurin der Jahre unter dem „Georgischen Traum“.

Ein Ende des „Georgischen Traums“?

In Georgien herrscht darüber hinaus Wahlkampf: Im Herbst wird ein neues Parlament gewählt. Eigentlich galt ein erneuter Sieg des „Georgischen Traums“ angesichts der zersplitterten Opposition als ausgemacht, zumal alle staatlichen Hebel mit Ausnahme des Präsidentenamts in der Hand der Regierungspartei sind. Mit dem Agentengesetz wollte die Partei das nationalkonservative Elektorat hinter sich vereinen und die Opposition und die kritische Zivilgesellschaft als Handlanger des bösen (westlichen) Auslands hinstellen.

Diese Art der Verleumdungspropaganda wirkt in großen Teilen der Bevölkerung, sorgt aber für auch Spaltung und immer toxischerer Polarisierung. Somit ist die Lage in Georgien letztlich ein Ausdruck der Paranoia und Angst vor Machtverlust eines einzigen Mannes und seiner von ihm abhängigen Gefolgsleute. Die Leidtragenden sind diejenigen, die von der europäischen Zukunft ihres Landes träumen.

Zuerst erschienen im IPG-Journal.

Autor*in
Marcel Röthig

ist Leiter des Regionalbüros Südkaukasus der Friedrich-Ebert-Stiftung und zuständig für Georgien, Armenien und Aserbaidschan. Zuvor war er Landesvertreter in der Ukraine und der Republik Moldau, Repräsentant für Belarus sowie stellvertretender Landesvertreter in der Russischen Föderation.

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4 Kommentare

Gespeichert von Armin Christ (nicht überprüft) am Sa., 04.05.2024 - 09:09

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Nach der in der Geographie gültigen Definition (nachStrahlenberg) liegt Georgie eineindeutig in Asien !

Gespeichert von Jonas Jordan am Mo., 06.05.2024 - 08:52

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Georgien ist Mitglied des Europarates und damit potenzieller EU-Beitrittskandidat. Hilft das weiter?

Gespeichert von Armin Christ (nicht überprüft) am Di., 07.05.2024 - 07:16

Antwort auf von Jonas Jordan

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Das hilft nicht weiter ! Es stört mich die willkürliche Definition von "Europa". Wann wird Kasachstan zum Beitrittskandidaten ? Dessen Territorium umfaßt ja etliche europäische (Strahlenberg) Gebiete.

Gespeichert von Jonas Jordan am Di., 07.05.2024 - 09:08

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Schauen Sie doch einfach mal in der obigen Erläuterung. Kasachstan ist kein Mitglied des Europarates, kann also kein EU-Beitrittskandidat werden. So einfach ist es.