Russlands Krieg gegen die Ukraine erschüttert auch den Südkaukasus. Dabei reagieren Politik und Gesellschaften in Armenien, Aserbaidschan und Georgien jeweils unterschiedlich und zeigen einmal mehr, wie divers sich die drei Länder nach ihrer Unabhängigkeit von der Sowjetunion vor 30 Jahren entwickelt haben.
Aserbaidschan: Präsident Alijew setzt auf Neutralität
Aserbaidschan ist offiziell das, was die Ukraine nach Willen des Kremls werden soll: neutral. Präsident Ilham Alijew sitzt aktuell sogar der Bewegung der Blockfreien Staaten vor. Realpolitisch versucht Baku den Balanceakt zwischen der alten Vormacht Russland und der Türkei. Ein strategisches Bündnis, das Baku am Vorabend des Krieges mit Moskau schloss, spiegelt in vielen Punkten die 2021 mit Ankara verabschiedete „Deklaration von Schuscha“ wider. Aserbaidschan wagt somit das Kunststück, seine Außenpolitik mit zwei oftmals rivalisierenden, manchmal kooperierenden regionalen Großmächten zu koordinieren. Aktuell bemüht sich der türkische Präsident Erdogan im Krieg zwischen Russland und der Ukraine als Vermittler.
Die Sympathien der Bevölkerung liegen dabei auf ukrainischer Seite. Eine Großdemonstration in Baku rief zur Solidarität mit der Ukraine auf. Sie wurde von der Polizei toleriert, die sonst sogar Frauen-Demonstrationen mit roher Gewalt auseinandertreibt. Aserbaidschan hält seit Ausbruch des Karabach-Konfliktes 1988 konsequent am Prinzip der „territorialen Integrität“ fest und steht damit naturgemäß auf Seiten Kiews, während die armenische Seite das Selbstbestimmungsrecht der Karabach-Armenier*innen betont. Gleich nach Rückkehr aus Moskau brachte der aserbaidschanische Präsident Alijew 24 Tonnen Hilfsgüter für die von seinem formellen Bündnispartner Russland überfallene Ukraine auf den Weg. Unter dem Label der Neutralität versucht das ölreiche Aserbaidschan, seine Unabhängigkeit von Moskau zu festigen und außenpolitische Handlungsspielräume zu erweitern.
Aus Sicht der autoritären Führung in Baku konnte der Konflikt um Berg-Karabach durch den Krieg 2020 erfolgreich „gelöst“ werden: Weite, zuvor armenisch kontrollierte Gebiete gingen nach 44 Tagen brutaler Kämpfe zurück an Aserbaidschan. Der von der Türkei unterstützte Angriffskrieg wurde – trotz eklatantem Völkerrechtsbruch – von der internationalen Gemeinschaft nicht sanktioniert. Ein Stopp aserbaidschanischer Energielieferungen in die EU wurde nicht einmal für die Zeit der aktiven Kampfhandlungen in Erwägung gezogen. Weniger als fünf Prozent der EU-Rohölimporte stammen aus dem Land am Kaspischen Meer. Die Trans-Adria-Pipeline, mit der aserbaidschanisches Erdgas nach Italien fließen kann, wurde während des Krieges fertiggestellt. Womöglich bestärkte dies Moskau in der Annahme, eine Änderung des Status quo mit militärischen Mitteln würde international hingenommen werden. Im Zuge der westlichen Russland-Sanktionen hofft Baku nun auf Ausweitung seiner Energieexporte in die EU. Allerdings gibt es hier kurzfristig nur wenig Spielraum, da Produktions- und Exportkapazitäten knapp sind.
Armenien: Kritik an „westlichen Doppelstandards“
In Armenien sorgt die Diskrepanz in den Reaktionen des Westens auf die Kriege 2020 und 2022 für viel Bitterkeit. Bei grundsätzlicher Sympathie für das Schicksal der Ukraine werden „westliche Doppelstandards“ im Umgang mit Staaten beklagt, die den Frieden brechen. Armenien ist infolge seiner Niederlage von 2020 noch enger an die Sicherheitspartnerschaft mit Russland gebunden als zuvor. Dementsprechend vermeidet die Regierung jegliche Äußerungen zum Krieg in der Ukraine. Russische Friedenstruppen sichern das Überleben der verbleibenden armenischen Bevölkerung in Rest-Karabach. Im Windschatten des Krieges erhöht Aserbaidschan hier den Druck: Am 8. März schnitt eine Havarie auf aserbaidschanisch kontrolliertem Territorium Karabach von der Gasversorgung ab: über 100 000 Menschen verbleiben bei niedrigen Temperaturen ohne Heizung. Armenische Siedlungen wurden wiederholt beschossen. Einschüchterungskampagnen des aserbaidschanischen Militärs haben offenkundig das Ziel, die armenische Bevölkerung zum Verlassen der Region zu bewegen.
Die armenische Hauptstadt Jerewan ist hingegen zum Zielort einer neuen Fluchtwelle geworden: Insbesondere gut ausgebildete Russen kehren Moskau und anderen Städten den Rücken, darunter neben Journalist*innen und Menschenrechtsaktivist*innen auch IT-Spezialist*innen und ganze Unternehmen. An einigen Tagen landeten 37 Maschinen aus Russland am Flughafen Zvartnots. Regierung und private Initiativen bemühen sich, diesen Zustrom als Chance zu nutzen und den Neuankömmlingen Unterstützung bei der Arbeitssuche und der Gründung von Unternehmen zu leisten. Ob dieser „brain gain“ aber den erwartbaren Rückgang der Geldtransfers von armenischen Arbeitsmigrant*innen aus Russland auffangen kann, bleibt fraglich. Insgesamt wird der absehbare Zusammenbruch der russischen Wirtschaft überwiegend negative Folgen für den Südkaukasus haben – nicht nur aufgrund der Arbeitsmigration, sondern auch, weil Russland Hauptexportland für viele verarbeitete Produkte der Region ist.
Georgien: Rivalität zu Russland Teil der Identität
Auch in Georgien sind bereits über 20.000 Emigrant*innen aus Russland angekommen – allerdings sind sie hier weniger willkommen. Eine Onlinepetition fordert gar die Wiedereinführung einer Visumspflicht für Russen. Diese sollten, so die Begründung, lieber in Russland bleiben und das Kreml-Regime dort bekämpfen. Hierin spiegelt sich das konfliktive Verhältnis zu Russland, das spätestens seit dem August-Krieg gegen Russland 2008 für Georgien identitätsstiftend ist. Es herrscht Angst, dass Moskau die Anwesenheit einer russischen Minderheit eines Tages als Vorwand für ein militärisches Vorgehen gegen Tiflis nutzen könnte. Seit der Anerkennung der „Unabhängigkeit“ von Abchasien und Südossetien 2008 verfügt Russland über militärische Infrastruktur auf der georgischen Seite des Kaukasus-Hauptkammes, knapp 40 Kilometer von der Hauptstadt Tiflis entfernt.
Die Ängste vor Russland führen zu einer überwältigenden Welle der Solidarität mit der Ukraine, die sich nicht nur in regelmäßigen Massendemonstrationen auf dem Rustaveli-Prospekt, sondern auch in der blau-gelben Dekoration zahlreicher Geschäfte zeigt. Unternehmen und Privatpersonen sammeln in großem Umfang Spenden und Hilfsgüter, ein ehemaliger Verteidigungsminister kämpft mit anderen georgischen Freiwilligen auf Seiten der Ukraine. Über zwei Drittel der Bevölkerung erwarten laut einer aktuellen Umfrage, dass nach einer Niederlage der Ukraine Georgien das nächste Opfer russischer Aggression sein würde. Kritik ruft die Zögerlichkeit der Regierung hervor, die zwar bescheidene humanitäre Hilfe auf den Weg gebracht hat, sich aber gegen Russland gerichteten Sanktionen nicht anschließen will. Medienberichten zufolge wurde einem Charterflugzeug, das georgische Kämpfer in die Ukraine bringen sollte, die Landung in Tiflis verweigert.
In der Zivilgesellschaft wird befürchtet, dass die teils plumpen Begründungen der eigentlich nachvollziehbaren Vorsicht die EU-Beitrittsperspektiven Georgiens beinträchtigen. Premier Irakli Gharibaschwili betonte öffentlich, dass Sanktionen sowieso sinnlos seien und er allein die nationalen Interessen Georgiens im Blick behalten müsse. Die Ukraine rief aus Verärgerung hierüber ihren Botschafter aus Tiflis zurück.
Dennoch reichte Georgien nun – kurz nachdem die Ukraine dies getan hatte – überstürzt einen Antrag auf EU-Mitgliedschaft ein, der eigentlich für 2024 angekündigt war. Dessen Erfolgsaussichten werden jedoch weniger durch die Haltung zur Ukraine infrage gestellt als durch die angespannten Beziehungen der georgischen Regierung zur EU. Diese haben sich in den vergangenen Jahren vor allem aufgrund der verschleppten Justizreform und des mangelnden Schutzes der Rechte von Minderheiten stetig verschlechtert. Nach gewaltsamen Ausschreitungen gegen Journalist*innen im Rahmen der „Pride Parade“ im Sommer 2021 flirtete der Premierminister öffentlich mit der Idee einer „illiberalen Demokratie“ Orbanscher Prägung: Zumindest aus westeuropäischer Sicht erhöhen solche Gedankenspiele nicht die Attraktivität einer georgischen EU-Bewerbung.
Auch im Angesicht des russisch-ukrainischen Krieges bleibt der Südkaukasus damit zerklüftet: Georgien setzt seinen EU-Kurs unbeirrt fort, Armenien verbleibt fest in der russischen Einflusszone und Aserbaidschan balanciert zwischen den Blöcken. Der Krieg bewegt die Region, belässt aber die drei Staaten bislang auf ihren eingeübten Entwicklungspfaden.