International

Wie die Corona-Krise Georgiens Demokratie verändert

Die Regierung Georgiens hat schnell und effektiv auf die Corona-Pandemie reagiert. Bisher setzte sie auf Neoliberalismus. Nun führt sie Preiskontrollen ein, verbessert die Arbeitslosenhilfe und verzichtet auf Steuern für Geringverdiener. Alte Ideologien könnten ins Wanken geraten.
von Felix Hett · 14. Mai 2020
Blick auf Burg und Altstadt der georgischen Hauptstadt Tiflis
Blick auf Burg und Altstadt der georgischen Hauptstadt Tiflis

Johann Güldenstädt, Naturforscher im Auftrag der Zarin, schrieb 1771 aus dem Kaukasus, die Georgier seien ein „furchtsames Volk, das sich (…) vor Krankheiten sehr scheuet, und daher die Aerzte, welche dort sehr selten sind, ehret.“ Der Respekt vor den Ärzten hat sich in Georgien über die Jahrhunderte gehalten, ihren Seltenheitswert haben sie jedoch eingebüßt: Weltweit haben nur fünf Staaten (darunter Kuba und Schweden) mehr Ärzte pro Kopf als die vermeintlich furchtsamen Georgier.

Der hohe Stellenwert der Medizin in der Gesellschaft ist ein Erfolgsfaktor bei der Bekämpfung der Pandemie. Zu deren Beginn hörte Georgiens Regierung schneller als andere auf ihre Epidemiologen und bewahrte so das nahezu vollständig privatisierte Gesundheitssystem vor dem Zusammenbruch.

Lockdown: früher Einstieg, früher Ausstieg

China-Flüge wurden bereits im Januar ausgesetzt. Nach Entdeckung der ersten drei Fälle Ende Februar schloss die Regierung ab dem 2. März die Schulen – und wird sie vor September auch nicht wieder öffnen. Direktverbindungen nach Italien wurden am 6. März gekappt. Einreisende aus Risikogebieten mussten sich schon vorher in Quarantäne begeben. Es folgten der Ausnahmezustand am 21. März, eine nächtliche Ausgangssperre ab dem 30. März und – zur Verhinderung von Kirchgängen und Familienfeiern – ein zehntägiges Fahrverbot für Privat-PKW rund um das orthodoxe Osterfest. Mehrere Orte mit Infektionsclustern wurden konsequent abgeriegelt.

So steht Georgien mit knapp über 600 Infizierten Anfang Mai auch im regionalen Vergleich gut da – und wagte Ende April den vorsichtigen Einstieg in den Ausstieg aus dem Lockdown. Das Beispiel des kleineren Nachbarn Armenien mit fast 3000 Fällen zeigt, wie sich eine verzögerte Reaktion hätte auswirken können.

Das ist neu: Vertrauen in die Regierung

Georgiens Bevölkerung trägt die Maßnahmen mit, vertraut – wenig verwunderlich – den Medizinern, aber auch – und das ist überraschend – der Regierung. Denn die vergangenen Jahre waren geprägt von einer ständig wachsenden Kluft zwischen Regierenden und Regierten, das Vertrauen in alle Institutionen befand sich im Sinkflug. Nun macht der Staat auf einmal etwas richtig. Darin liegt eine Chance für die georgische Demokratie. Ob die herrschende Elite diese nutzen kann, ist unklar, denn die Entfremdung ist groß. Mit der vorläufigen Pandemie-Bilanz ist ein Sieg der Regierungspartei „Georgischer Traum“ bei den Parlamentswahlen am 31. Oktober wahrscheinlicher geworden. Für den Moment scheint die Opposition abgemeldet. Ihre klassischen Themen – Justiz, Wahlrecht, Korruption – sind in den Hintergrund gerückt.

Andererseits ist der Preis der Gesundheit hoch. Eine schwere Wirtschaftskrise zeichnet sich ab. Prognosen gehen von einem BIP-Rückgang von vier bis zwölf Prozent 2020 aus. Allein der Beitrag des nun ausgebremsten Tourismus zur Wirtschaftsleistung beträgt über 20 Prozent. Die Arbeitslosigkeit schnellt in die Höhe. Damit sind manche Dinge in Bewegung geraten. Vieles, was vor kurzem noch undenkbar schien, wird nun getan.  

Sozialpolitik statt Neoliberalismus

Zur Abfederung der Krise greift die bislang überwiegend neoliberalen Doktrinen anhängende Regierung zu ungewohnten Mitteln: Preiskontrollen für Grundnahrungsmittel waren ein erster Schritt. Derselbe Staat, der bislang von einer Arbeitslosenversicherung nichts wissen wollte, zahlt nun Arbeitslosen für ein halbes Jahr monatlich 200 Lari (ca. 60 Euro). Und mit dem vorübergehenden Verzicht auf die Einkommenssteuer für die ersten 750 Lari (ca. 220 Euro) für Einkommen bis 1.500 Lari steht mit einem Mal die bislang heilige „Flat Tax“ in Frage. Das ist sicherlich noch kein Paradigmenwechsel, denn gleichzeitig wird auch wieder über mehr Privatisierungen nachgedacht – aber eine Nebenwirkung von SARS-CoV-2 könnte sein, dass alte Ideologiegebäude auch im Kaukasus ins Wanken geraten.

Dieser Text erschien zuerst am 8. Mai im IPG-Journal.

Schlagwörter
Autor*in
Felix Hett

Felix Hett leitet das Süd-Kaukasus-Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung mit Sitz in Tiflis.

0 Kommentare
Noch keine Kommentare