Warum ein höherer Mindestlohn nicht nur den Beschäftigten nutzt
Die Mindestlohnkommission hat entschieden: Der Mindestlohn soll schrittweise bis 2027 auf 14,60 Euro steigen. Davon profitieren nicht nur die Beschäftigten. Auch der Wert der Arbeit wird so gewahrt.
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Der Mindestlohn soll bis 2027 auf 14,60 Euro steigen. So hat es die Mindestlohnkommission vorgeschlagen.
Es geht schon wieder los. Kaum fordert die SPD einen höheren Mindestlohn, erhebt der Chor der Warner seine Stimme und beklagt vorauseilend den Verlust von abertausenden von Arbeitsplätzen. Das ist weder neu noch hat es sich bislang als berechtigt herausgestellt. Nun kann man dem weiteren Procedere eigentlich ganz gelassen entgegen sehen. Denn zuständig für einen Vorschlag ist die von den Tarifparteien getragene Mindestlohnkommission, die sich bisher eher nicht als maßlose Treiberin für immer höhere Mindestlöhne profiliert hat, auch nicht mit ihrer jüngsten Entscheidung vom Freitag.
Ein höherer Mindestlohn kommt den Beschäftigten zu Gute
Das ist eine Gelegenheit einmal über den engen Tellerrand der Festsetzung des Mindestlohns hinauszublicken und dessen Wirkungen auf die übrige Wirtschaft zu betrachten. Es erscheint ein Bild, das positiv stimmt.
Zunächst einmal ist offenkundig, dass ein höherer Mindestlohn allen zum Mindestlohn Beschäftigten zu Gute kommt. Das gilt sowohl für den Einzelfall als auch, wegen der ausbleibenden Beschäftigungsverluste, für deren Gesamtheit. Die Summe der Einkommen aus Mindestlohn steigt. Hieraus entsteht ein Nachfrageimpuls, der einer Wirtschaft deren Kapazitäten durch die zähe Stagnation der vergangenen Jahre nur unzureichend ausgelastet sind, gut tut. Nach früheren Erfahrungen mit höheren Mindestlöhnen verstärkt sich dieser Effekt sogar noch im Lauf der Zeit.
Ein höherer Mindestlohn strahlt schließlich auch auf die unteren Lohngruppen in vielen Bereichen aus, in denen die Tarifparteien versuchen werden, den Abstand zum Mindestlohn aufrecht zu erhalten und die Löhne ebenfalls steigen. Unter den derzeitigen Umständen dürfte also die gesamte Wirtschaft profitieren.
Ein höherer Mindestlohn nutzt auch den Sozialkassen
Häufig übersehen wird übrigens, dass ein höherer Mindestlohn auch den Sozialkassen nutzt. Von jedem zusätzlich verdienten Euro gehen bei einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung ein erheblicher Teil an die Renten- , die Kranken und die Arbeitslosenversicherung. Da sie derzeit hohe Defizite ausweisen, können sie diese Finanzspritze gut gebrauchen. Das entlastet zudem im Gegenzug den Bundeshaushalt, der weniger zum Ausgleich dieser Defizite überweisen muss. Zugleich vermindern sich seine Ausgaben für Aufstocker beim Bürgergeld, da ja das Einkommen dieser Beschäftigten ebenfalls steigt.
Über all dem Positiven sollte man aber auch die Kosten eines höheren Mindestlohns nicht vergessen. In erster Linie werden die Arbeitgeber*innen durch die höheren Lohnkosten belastet. Das geht entweder zu Lasten ihrer Gewinne oder sie erhöhen ihre Preise. Das geht zu Lasten ihrer Kunden. Erfahrungsgemäß treten beide Effekte gleichzeitig, aber in maßvoller Form auf und sind daher sowohl für die Unternehmen als auch ihre Kunden verkraftbar, zumal beide ja auch von den positiven gesamtwirtschaftlichen Effekten profitieren.
Der Gesetzgeber muss den Schutz der Beschäftigten übernehmen
Der wichtigste Aspekt höherer Mindestlöhne ist aber ein anderer. Es geht um den Wert der Arbeit. In Zeiten nachlassender Tarifbindung droht Arbeit eine fortwährende Abwertung. Ursache ist die in der Regel ungleiche Machtverteilung zwischen Unternehmen und Beschäftigten. Ausnahmen bilden nur die Märkte, auf denen hochspezialisierte Kenntnisse z.B. im IT-Bereich gefragt sind. Hier können die Bewerber*innen ihre Lohnvorstellungen leicht durchsetzen.
Die bittere Alltagserfahrung ist für die meisten jedoch eine andere. Während ein Unternehmen, insbesondere multinational arbeitende, zumeist zwischen zahlreichen Standorten und Bewerber*innen wählen können, sind letztere zumeist auf einen Standort beschränkt. Zudem sind sie auf Einkommen aus Beschäftigung angewiesen, um finanziell überleben zu können. Daraus ergibt sich ein strukturelles Machtgefälle auf dem Arbeitsmarkt, bei dem der Einzelne nur wenig, wenn überhaupt etwas, durchsetzen kann. Nur die kollektive Verhandlungsmacht von Gewerkschaften vermag eine solche Marktohnmacht auszugleichen.
In immer mehr Unternehmen gibt es eine solche Schutzmacht für Beschäftigte nicht, und die Unternehmensleitungen tun alles dafür, dass dies so bleibt. Genau deshalb ist der Gesetzgeber gefordert. Er muss ersatzweise den Schutz der Beschäftigten übernehmen. Es ist aber eine kluge Entscheidung, diesen Auftrag an die Mindestlohnkommission zu delegieren, in der die Tarifparteien maßgeblich sind. Schließlich sind sie in erster Linie die wirtschaftlichen Folgen von Entscheidungen über den Mindestlohn betroffen, und sie gehen daher verantwortlich mit dieser Macht um. So kann der Wert der Arbeit bewahrt werden.
ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Duisburg-Essen. Er gründete und war von 2005 bis 2019 wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der Hans-Böckler-Stiftung.