Meinung

Europatag: Warum wir auch heute Visionäre wie Robert Schuman brauchen

Am 9. Mai 1950 formulierte der französische Außenminister Robert Schuman eine kühne Vision: Die französische und die deutsche Kohle- und Stahlproduktion sollte künftig gemeinsam verwaltet werden. Aus dem Schuman-Plan erwuchs die Europäische Union, die 75 Jahre später stark gefährdet ist.

von Martin Schulz · 9. Mai 2025
Eine Vision wurde Wirklichkeit: Vor 75 Jahren legte Robert Schuman den Grundstein für die heutige Europäische Union.

Eine Vision wurde Wirklichkeit: Vor 75 Jahren legte Robert Schuman den Grundstein für die heutige Europäische Union.

Wenn in diesen Tagen der 80. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs begangen wird, dann denke ich auch an die Geschichten meiner Familie in meiner Heimat, dem Dreiländereck zwischen Deutschland, den Niederlanden und Belgien. In meinem Arbeitszimmer steht ein altes Familienfoto meiner Mutter. Es wurde 1943 aufgenommen und zeigt vier ernste junge Erwachsene: meine Mutter, Jahrgang 1920, ihre Schwester und zwei ihrer Brüder – beide in Wehrmachtsuniform. Ihr Mann, mein Vater, war zu diesem Zeitpunkt als Soldat im Krieg – 1940 hatten sie geheiratet, unmittelbar vor seinem ersten Fronteinsatz. Zum Zeitpunkt der Aufnahme lebten sowohl der niederländische als auch der belgische Teil meiner Familie – die Seiten meiner Großeltern – unter einem brutalen deutschen Besatzungsregime.

Mein Onkel Josef, mit 18 Jahren der Jüngste auf dem Foto, wurde kurz nach der Aufnahme an die Ostfront geschickt. Wie durch ein Wunder kehrte er nach Kriegsende körperlich unversehrt zurück. Prompt meldete er sich freiwillig zum Minenräumen bei den belgischen Streitkräften – um mitzuhelfen, zumindest einige Bösartigkeiten des Kriegs zu beseitigen. Dabei trat er auf eine Mine. Er wurde nur 20 Jahre alt und liegt in Belgien auf einem Soldatenfriedhof begraben. In der Generation meiner Eltern waren solche Geschichten nicht ungewöhnlich. Für mich hingegen, Jahrgang 1955, war es schon früh nahezu unvorstellbar, dass sich solche Erfahrungen in meinem Leben wiederholen könnten. Die Berichte über den Krieg und seine entsetzlichen Folgen prägten meine ganze Kindheit und Jugend. Die furchtbaren Verbrechen, die von Deutschen begangen wurden, spielten in meiner politisch sehr engagierten Familie eine zentrale Rolle.

Eine Geschichte gegründet auf Schutt und Asche

Der Krieg – angezettelt von einem Deutschland, das im Wahn von Großmachtfantasien und Rassenideologie den Zivilisationsbruch begann – brachte unermessliches Leid über Millionen von Menschen: Sie wurden terrorisiert, verschleppt, ausgehungert, ermordet. Das Böse war zum Alltag geworden. Eine ganze Generation junger Männer in Europa und darüber hinaus kehrte schwer traumatisiert von den Schlachtfeldern zurück – wenn denn überhaupt. Die Geschichte des heutigen Europas gründet auf Schutt und Asche, auf Hass, Entmenschlichung und monströser Gewalt. Auf kollektivem Hunger und kollektiver Angst. Und doch: Nur fünf Jahre nach diesen Menschheitsverbrechen entstand der Geburtsmoment der europäischen Einigung – durch eine Geste Frankreichs an Deutschland, getragen von der Hoffnung auf eine bessere gemeinsame Zukunft. Das grenzt an ein Wunder.

Die Sehnsucht nach dauerhaftem Frieden war mächtig in jenen Jahren – mächtiger als der Hass und der Wunsch nach Vergeltung. Am 9. Mai 1950 formulierte der französische Außenminister Robert Schuman in einer historischen Rede eine kühne Vision: Die kriegswichtige französische und deutsche Kohle- und Stahlproduktion sollte künftig gemeinsam verwaltet werden – mit der Möglichkeit für weitere europäische Staaten, sich dem anzuschließen. Nur fünf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war das ein verwegener, ja mutiger Akt. Statt den Weg der Demütigung zu gehen, wie er nach dem Ersten Weltkrieg mit dem Versailler Vertrag eingeschlagen worden war, setzten französische Staatsmänner auf Versöhnung. Sie gingen persönlich ins Risiko – und reichten Deutschland die Hand. So wurde die Integration der jungen Bundesrepublik in die europäische Staatengemeinschaft möglich. Was für ein Geschenk – und was für eine Verpflichtung!

Adenauer ergriff eine historische Chance

Bundeskanzler Konrad Adenauer, der als einziger Deutscher vorab in den Plan Schumans eingeweiht worden war, erkannte die historische Chance – und griff zu. Schuman und Adenauer trafen ihre mutige Entscheidung gegen die Ressentiments in der Bevölkerung beider Länder. Denn der Hass, genährt durch die jahrzehntelange Erzählung einer angeblichen „Erbfeindschaft“, saß tief. Ihre Hoffnung lautete: Wer eng und transparent zusammenarbeitet, schießt nicht aufeinander. Die Frauen und Männer, die Europa sozial, wirtschaftlich und institutionell integrieren wollten, waren geprägt von zwei Weltkriegen. Sie wussten: Krieg und seine Folgen lassen sich nur durch pragmatische Vernunft überwinden. Und zugleich: Nur wer bereit ist, visionär zu handeln, kann den Frieden dauerhaft sichern. Sie ahnten, dass die junge Demokratie im jahrelang diktaturgeprägten Deutschland stark und attraktiv für die Menschen werden musste – auch ökonomisch. Denn nur so ließ sich ein stabiler Frieden zwischen den europäischen Völkern aufbauen. Wirtschaftliche Zusammenarbeit wurde zum Friedensprojekt.

Gerade Frankreich als eine der alliierten Siegermächte zeigte damals eindrucksvoll, dass selbst nach schwerster Feindschaft eine gemeinsame Zukunft auf Vergebung gegründet werden kann. Voraussetzung: Beide Seiten teilen dasselbe Ziel – Frieden und Sicherheit für ihre Bevölkerungen. Zum Aufbau dieses Vertrauens setzten die neuen Partner auch auf Instrumente der „Soft Power“: Städtepartnerschaften – die älteste wurde ebenfalls 1950 begründet – und Jugendaustausch. Der Geist der Begegnung und der Dialog auf Augenhöhe wurden zentrale Prinzipien und fanden später besonderen Ausdruck im Élysée-Vertrag von 1963. Denn wer miteinander spricht, versteht sich besser.

Die Europäische Union ist nicht alternativlos

Die Schuman-Erklärung führte bereits ein Jahr später zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl. Die sechs Gründerstaaten – neben Frankreich und Westdeutschland noch Italien, die Niederlande, Belgien und Luxemburg – stellten ihren Nationalismus zurück und setzten auf gemeinsame Verantwortung. Vertrauen und Zusammenarbeit wurden zur Grundlage der europäischen Einigung. Aus ihr erwuchs die Europäische Union, wie wir sie heute kennen: Friedensmacht und Garantin für Wohlstand, Demokratie und Freiheit. Für mich: die größte zivilisatorische Errungenschaft des letzten Jahrhunderts!

Und doch: Es gibt keine Ewigkeitsgarantie für dieses europäische Projekt. Als ich vor zehn Jahren mit dem Aachener Karlspreis für mein Engagement für Europa ausgezeichnet wurde, habe ich das klargestellt: Es ist gefährlich, die EU als alternativlos zu betrachten. Natürlich gibt es eine Alternative zur Europäischen Union. Sie lautet: Re-Nationalisierung. Deshalb müssen die europäischen Staaten immer wieder gemeinsam klären: Sind sie bereit, ihr besonderes Staatenbündnis für kurzfristige nationale Vorteile aufs Spiel zu setzen? Oder wollen sie – trotz aller notwendigen Kompromisse – gemeinsam das demokratische Gesellschaftsmodell, eine regelbasierte Ordnung und ihre Wettbewerbsfähigkeit in der globalisierten Welt verteidigen?

Zwei zentrale Aufgaben für die neue Bundesregierung

Europa wird heute so geschätzt wie lange nicht mehr. Drei von vier Europäer*innen identifizieren sich als EU-Bürger*innen. Mehr als die Hälfte der jungen Generation bewertet die EU-Mitgliedschaft ihres Landes als positiv – und sie haben allen Grund dazu: 450 Millionen Bürger*innen haben, trotz aller Krisen und Kritik, den wirtschaftlich stärksten und stabilsten Raum der Welt aufgebaut. Innerhalb der EU gilt die Idee individueller Grundrechte, garantiert durch den Staat: soziale Sicherheit, Meinungsfreiheit, Freiheit von Forschung und Lehre, Freizügigkeit, Respekt vor dem Individuum, das Verbot von Folter und Willkür. All das macht die Europäische Union für viele Menschen weltweit zu einem Sehnsuchtsort.

Und doch wächst in Europa die Sorge: Rund ein Drittel der jungen Menschen blickt heute pessimistisch in die eigene Zukunft. Demokratiefeind*innen sind weltweit auf dem Vormarsch – auch in Europa. Und gerade bei uns in Deutschland finden menschenverachtende Haltungen zunehmend gesellschaftliche Akzeptanz. Die nächste Bundesregierung steht damit vor zwei zentralen Aufgaben: Erstens muss unser Grundgesetz entschlossen gegenüber allen Verfassungsfeind*innen geschützt werden. Das gelingt nur, wenn Politik sich an den Alltagssorgen der Menschen orientiert, Respekt und Toleranz vorlebt und gleichzeitig einfordert – und dem Hass insbesondere im Netz klar entgegentritt. 

Euopa muss stärker denn je werden

Zweitens muss Deutschland alles daransetzen, Europa stärker denn je zu machen. In einer Zeit wachsender globaler Systemkonflikte – mit einem Russland, das buchstäblich vor der europäischen Haustür einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg führt, mit den USA, aber auch mit China – muss Europa klar Position beziehen: Für eine regelbasierte Ordnung, für Verlässlichkeit, demokratische Verfasstheit, Redlichkeit – und für den Schutz der Würde jedes Einzelnen. Denn nur so lassen sich Wohlstand und Frieden in unserer Region und darüber hinaus sichern.

Dafür brauchen wir auch heute Visionär*innen wie Robert Schuman – Menschen, die bereit sind, für ihre Idee vom besseren Morgen scheinbar undenkbare Brücken zu bauen, um Frieden und Wohlstand auch künftig zu sichern.

Martin Schulz ist Vorsitzender der Friedrich-Ebert-Stiftung.
SPDings – der „vorwärts“-Podcast

SPDings – der „vorwärts“-Podcast, Folge 30 mit Martin Schulz

Martin Schulz erzählt von der belastendsten Phase seiner politischen Karriere, blickt auf die anstehende Europawahl und erklärt, welche weitere Leidenschaft er mit SPD-Spitzenkandidatin Katarina Barley teilt.

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Autor*in
Martin Schulz

ist Vorsitzender der Friedrich-Ebert-Stiftung. Er war von 2017-2018 SPD-Parteivorsitzender und von 2012-2017 Präsident des Europäischen Parlaments.

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