Gastkommentar: Warum wir nicht weniger, sondern mehr Europäische Union brauchen
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Die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten müssen (europäische) Flagge zeigen. Sie können nicht darauf hoffen, dass sich das Rufen nach Abschaffen der Europäischen Union in Kürze wieder selbst relativiert. Wenn dieser Zug erst einmal rollt, lässt er sich nicht mehr stoppen.
Nationalismus ist keine Lösung
Glaubt denn wirklich irgendjemand in Europa allen Ernstes, dass sich die Probleme der Welt mit Isolation und einem neuen Nationalismus lösen lassen? Dass Staaten wie die USA, Russland oder China auf die Meinung eines einzelnen europäischen Kleinstaates (und dieser Ausdruck bezieht die Bundesrepublik ausdrücklich mit ein) warten? Und noch bedenklicher: Warum ist diese „Vogel Strauss“-Politik auf einmal wieder so salonfähig? Gelten die Grundlagen der Aufklärung nicht mehr als das Fundament unserer heutigen Demokratien? Es bleibt zu bezweifeln, dass Slogans à la USA wie „Make France great again“, „Make Italy great again“ oder auch „Make Germany great again“ tatsächlich Antworten auf diese Frage geben können.
Es geschieht genug Besorgniserregendes in unserer unmittelbaren Nachbarschaft, weit über die Flüchtlingsproblematik hinaus. In der Ukraine herrscht ein „vergessener Krieg“, in dem mittlerweile fast 10.000 Todesopfer zu beklagen sind. Die Entwicklungen in der Türkei, einschließlich der Infragestellung der Ergebnisse des Vertrages von Lausanne und der damit einhergehenden Integrität Griechenlands, sollten nicht auf die leichte Schulter genommen werden.
Zeit für mehr Europäische Union
Und der Umstand, dass kontra-europäischen Fliehkräfte in den Balkanstaaten immer weiter an Fahrt gewinnen, gibt auch zu denken. Es ist an der Zeit, dass sich die Europäische Union „emanzipiert“ und eine eigenständige Rolle im Rahmen der Globalisierung einnimmt. Es ist nicht die Zeit für weniger, es ist Zeit für mehr Europäische Union. Eine Europäische Union, die sich ihrer eigentlichen Werte besinnt und für diese unmissverständlich eintritt. Wenn die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten auch zukünftig eine Rolle in der Welt spielen wollen, ist dies der einzig gangbare Weg, was auch immer sonst uns Ewiggestrige, von Nationalfantasien Getriebene, vorzugaukeln versuchen.
Der Präsident der USA hat es bereits zu einem früheren Zeitpunkt angesprochen: Es gibt keine Weltflagge, keine Weltwährung, und keine Weltbürger. Das stimmt. Aber es gibt eine Flagge der Europäischen Union, eine Währung der Europäischen Union und Bürger der Europäischen Union. Das ist ein Anfang und darauf können die Mitgliedstaaten und die Europäische Union stolz sein, auch wenn es dem zukünftigen Präsidenten der USA nicht in seine Planungen passt.
Universelle Werte weiterentwickeln
Wir dürfen allerdings nicht länger fahrlässig mit der Europäischen Union umgehen, indem wir diese verwalten und so zu tun, als gebe es eine Bestandsgarantie. Die Europäische Union ist ein Spiegelbild dessen, was die Mitgliedstaaten ihr zugestehen – nicht mehr und nicht weniger. Auftritte wie aktuell die Wahl des Präsidenten des EU-Parlamentes, die viel diskutierte Ernennung von Herrn Oettinger zum Kommissar für Haushalt und Personal durch den Kommissionspräsidenten Juncker, oder „geheime“ Absprachen auf Regierungsebene, die dem grundsätzlichen Demokratieverständnis der Bürger widersprechen, sind da schlichtweg kontraproduktiv, wenn sie nicht sogar den Populisten in die Hände spielen. Vielleicht helfen ja auch ein kurzes Innehalten und ein Blick in die Präambel des Vertrages über die Europäische Union aus dem Jahre 2010. Alle Mitgliedstaaten unterzeichneten diesen Vertrag unter folgenden Prämissen:
- ENTSCHLOSSEN den mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaften eingeleiteten Prozess der europäischen Integration auf eine neue Stufe zu heben,
- SCHÖPFEND aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas, aus dem sich die unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen sowie Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte entwickelt haben,
- EINGEDENK der historischen Bedeutung der Überwindung der Teilung des europäischen Kontinentes und der Notwendigkeit, feste Grundlagen für die Gestalt des zukünftigen Europas zu schaffen,
- IN BESTÄTIGUNG ihres Bekenntnisses zu den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie und der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Rechtsstaatlichkeit,
- IN DEM WUNSCH, die Solidarität zwischen ihren Völkern unter Achtung ihrer Geschichte, ihrer Kultur und ihrer Traditionen zu stärken.
Verantwortung für unsere Kinder
Diese Werte müssen wir leben und vermitteln. Das gilt auch für die politischen „Eliten“. „Besorgtsein“ oder auch “zutiefst Besorgtsein“ allein wird auf Dauer nicht ausreichen. Die aktuellen Wahlumfragen zu den anstehenden Wahlen in Frankreich und den Niederlanden sollten uns zum Handeln auffordern. Die Entwicklungen in Italien laden auch nicht zu einer positiveren Sichtweise ein.
Es ist Zeit. Wir müssen die Frage beantworten, ob in einer globalisierten Welt europäische Politik zukünftig allein von Wirtschaftsinteressen bestimmt wird oder ob die Staaten der Europäischen Union Politik basierend auf einem gemeinsamen Wertesystem betreiben wollen. Durch das Festhalten an diesen Werten wurden wir mit 70 Jahren Frieden belohnt, das kann niemand aufgeben wollen. Wenn wir die Konsequenzen dieses populistischen und eindimensionalen Denkens in Europa und der Welt nicht begreifen, ist es zu spät. Nicht für uns, wir rennen schließlich „sehenden Auges“ ins Verderben, sondern zu spät für unsere Kinder und deren Kinder. Es ist diese Verantwortung gegenüber unseren Kindern, die von uns verlangt, die Grundlagen für eine friedvolle und gerechte Zukunft zu legen. Europäer wacht auf, es steht zu viel auf dem Spiel.