Martin Schulz: „Ich will einen europäischen Verfassungsvertrag“
Europa war über viele Jahre der zentrale Punkt Ihres politischen Lebens. Trifft es Sie, wenn Sie sehen, welche Entwicklung die EU in den vergangenen Monaten genommen hat?
Ja, das schmerzt. Und es ist schlecht für unseren Kontinent und Deutschland. Es trifft jeden, der Hoffnung verbunden hatte mit dem großen proeuropäischen Rückenwind, den Emmanuel Macron mit seiner Wahlkampagne entfacht hatte. Das hat die berechtigte Erwartung geschürt, dass damit auch durch Europa ein neuer Wind weht. Es darf einfach nicht sein, dass die ausgestreckte Hand Macrons, aber auch Italiens, in Berlin einfach ignoriert wird.
Emmanuel Macron plädiert für mehr Europa. Ist das der richtige Ansatz in der gegenwärtigen Situation?
Ja, absolut. Emmanuel Macron greift ja auch Ideen auf, die es in Europa schon länger gibt, die ich als Präsident des Europa-Parlamentes immer wieder vorgebracht habe. Eine europäische Finanzministerin oder Finanzminister etwa. Und wir als SPD haben seinerzeit dem Griechenlandrettungspaket zugestimmt unter der Bedingung der Einführung einer Finanztransaktionssteuer. Herr Schäuble hat das nie durchgesetzt.
Mit der Gründung eines europäischen Verteidigungsbündnisses hat die EU gerade bewiesen, dass sie durchaus handlungsfähig ist. Wie lässt sich darauf aufbauen?
Im Bereich der Sicherheit erkennen nationale Regierungen an, dass sie transnationale Strukturen schaffen müssen, wenn sie ihre Bürger schützen wollen. Im Bereich der Steuern sagen sie weiterhin, die Steuerhoheit sei national. In der Folge bezahlt der Bäcker an der Ecke brav seine Steuern, der globale Kaffeekonzern aber nicht. Deshalb wäre eine europäische Wirtschaftsregierung in der Eurozone wichtig mit einem Finanzminister, der das Steuerdumping der Mitgliedsstaaten gegeneinander beendet. Diese europäische Wirtschaftsregierung müsste auch eine gemeinsame Arbeitsmarktpolitik schaffen, um den sozialen Ausgleich in Europa zu verbessern.
Auf dem Parteitag haben Sie gefordert, die Vereinigten Staaten von Europa zu schaffen. Wie sollen die aussehen?
Diese Forderung hat die SPD seit dem Heidelberger Programm von 1925. Europa ist aber nicht nur Vergangenheit, die wir verteidigen – Europa ist unsere Zukunft. Dafür müssen wir mutig vorangehen – wie das auch der französische Präsident tut. Ich will einen europäischen Verfassungsvertrag, der ein föderales Europa schafft, das keine Bedrohung für seine Mitgliedsstaaten ist, sondern ihre sinnvolle Ergänzung. Ich habe auch keine Angst davor, die Völker Europas darüber abstimmen zu lassen, auch in Deutschland. Ich habe keine Angst davor, für ein starkes, solidarisches Europa zu streiten und zu überzeugen – das gibt es aber nur, wenn wir Europa endlich reformieren. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Menschen verstehen werden, dass ihnen Europa nicht schadet, sondern nützt.
Trotzdem zeigen nicht zuletzt die Wahlerfolge der Populisten, dass viele Menschen Angst vor Europa haben. Wie kann man sie ihnen nehmen?
Viele fürchten, die Europäische Union sei ein Superstaat, der ihre nationale Identität untergräbt. Diese wird von vielen Menschen, gerade in turbulenten Zeiten, als ein Schutz empfunden. Das Gegenteil ist aber der Fall. Wir müssen den Menschen klarmachen, dass die EU das Instrument ist, das unsere Identität in einer immer stärker globalisierten Welt schützt. Deshalb bin ich auch dafür, dass wir echte Reformen in Europa durchführen. Europa muss sich nicht in jedes Klein-Klein einmischen, das besser national geregelt wird. Aber die EU muss die großen Fragen: Arbeitsmarkt, Wirtschaft, Steuerdumping, Migration und vieles mehr beantworten. Und dafür muss die EU dann auch die Instrumente erhalten.
Nicht nur die EU, auch die sozialdemokratischen Parteien in Europa stecken weitgehend in einer Krise. Was müssen die SPE und die SPD tun, um da rauszukommen?
Zunächst müssen wir uns als deutsche Sozialdemokraten erneuern, uns wieder selbst stärken. Wir sind eine besonders mitgliederstarke und überhaupt eine politisch starke Partei, auf die in Europa viele schauen. Im zweiten Schritt müssen wir unseren Freunden in anderen Ländern helfen. Wir haben beim Treffen der SPE-Führer in Lissabon Anfang Dezember vereinbart, dass wir erstmal unsere Genossen in Frankreich und in Italien unterstützen werden. In Italien stehen ja bald wichtige Parlamentswahlen an. Aber auch die skandinavischen Sozialdemokraten, vor allen Dingen unsere schwedischen Genossen, werden um die Verteidigung ihrer Regierung kämpfen. Und wir haben in Lissabon über die Europawahlen 2019 gesprochen. Wir wollen als SPE den Erfolg. Wir Sozialdemokraten werden in Europa gebraucht – wer sonst soll den Mut zu echten Reformen, zu mehr Demokratie und einer sozialeren Union aufbringen?
Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.