Kultur

Warum im Zeitalter der Identität der Appell an das Gemeinsame so wichtig ist

Gesellschaftliche Siege erringe man nicht mit dem Verweis auf Differenz, davon ist Autor Yascha Mounk überzeugt. Mit seinem Buch „Im Zeitalter der Identität“ gelingt ihm eine überzeugende Verteidigung universeller Ideale. 

von Michael Bröning · 25. März 2024
Das rote Buch

Yascha Mounks Buch zwingt das Publikum zu einer doppelten und schwierigen Auseinandersetzung, meint Michael Bröning

Ein weiteres Buch gegen Woke? Noch eine Abrechnung mit dem vermeintlich irren Zeitgeist? Haben wir Peak Woke – den Gipfel der Identitätspolitik – nicht längst überschritten und ohnehin derzeit ganz andere Probleme? Berechtigte Fragen: Yascha Mounk weicht ihnen nicht aus, sondern macht sie in seinem nun auch auf Deutsch erschienenen neuesten Buch zum Ausgangspunkt der Überlegungen.

Gilt die Unschuldsvermutung?

Gleich zu Beginn benennt er halb ironisch das Risiko, in der Befassung mit den Kulturkämpfen wie ein zorniger Mann zu wirken, „der die Fäuste Richtung Himmel streckt“. Das klingt vertraut – auch im deutschen Diskurs.

Doch einerseits scheinen die Kulturkämpfe lange nicht vorbei – weshalb sonst die Sorge vor der Faust im Himmel? Und andererseits wurde die Veröffentlichung des Buchs von einem Vorwurf des sexuellen Missbrauchs gegen Mounk überlagert, den der Autor „kategorisch“ abstreitet. Damit aber wirft die Publikation nun auf einer ganz untheoretischen Ebene exakt die Fragen nach dem Umgang mit Autor und Werk auf, deren Beantwortung in den aktuellen Kulturkämpfen eben eine der bestimmenden Konfliktlinien markiert. Wer darf sprechen? Wessen Perspektive zählt? Ist die Person vom Werk zu trennen? Gilt die Unschuldsvermutung? Oder ist ein Business as usual in einer solchen Ausgangssituation eine Hinnahme struktureller Machtungleichgewichte? So betrachtet zwingt das Buch das Publikum zu einer doppelten und schwierigen Auseinandersetzung. Zumindest in der deutschen Debatte scheint das Pendel dabei klar in Richtung „ja zur Diskussion“ zu schwingen, wie die Vielzahl von Besprechungen quer durch ideologische Lager belegt.   

Identitätspolitik als Debatte der Gegenwart

Grundsätzlich gilt Mounk als umtriebiger politischer Beobachter. Neben Lehrtätigkeiten an der Johns-Hopkins-Universität ist er Contributing Editor bei The Atlantic und Mitherausgeber der ZEIT (beide Tätigkeiten ruhen angesichts der erhobenen Vorwürfe wegen sexuellen Missbrauchs vorerst). Zusätzlich betreibt Mounk das Diskussionsportal Persuasion mit derzeit rund 50.000 Abonnenten. 

Auch der deutschen Sozialdemokratie ist Mounk nicht unbekannt, schließlich war er ihr – in München geboren – über Jahre als Mitglied verbunden. Aus Protest über die Migrationspolitik trat er 2015 aus der Partei aus, doch bei der Lektüre scheint immer wieder durch, dass Mounk zwar aus der Sozialdemokratie ausgetreten ist, aber die Sozialdemokratie zumindest nicht vollumfänglich aus ihm.

Auch vor diesem Hintergrund rechtfertigt Mounk gleich zu Beginn die Themensetzung selbst. Denn für ihn ist die Befassung mit dem, was er dezidiert weder als „Identitätspolitik“ noch als „Woke“, sondern als „Identitäts-Synthese“ bezeichnet, eine der zentralen intellektuellen Debatten der Gegenwart. Es gehe „um nichts weniger als um die Grundregeln, Prinzipien und Hintergrundannahmen, die unsere Gesellschaften in den kommenden Jahrzehnten prägen werden“.

Rassismus und Benachteiligung sind real

Übertrieben? Nicht, sofern man Schockierendes schockierend findet. Gleich zu Beginn zitiert das Buch Beispiele, die jedem Anhänger von Gleichberechtigung die Haare zu Berge stehen lassen: USA trennen Hochschulen Studierende nach Hautfarbe. Ärzte finden die Bevorzugung einzelner ethnischer Gruppen wichtiger als das „simple Retten von Leben“ und progressive Eltern warnen ihre Sprösslinge vor Freundschaften mit Kindern anderer Hautfarbe. 

Hat sich das farbenblinde „Ich habe einen Traum“ Martin Luther Kings über Nacht in einen Alptraum verwandelt? Jedenfalls zerstreuen die dargestellten Entwicklungen verbreitete Zweifel, dass es das progressive Lager derzeit mit mehr zu tun hat als mit einem schnell zu behebenden Kurzschluss in einem Seitentrakt von Wolkenkuckucksheim. 

Doch trotz der aufrüttelnden Beispiele ist das Buch kein Schaumschlagen für Leute, die davon schon mehr als genug vor dem Mund haben. Ziel ist eine Sezierung. Mounk beschreibt den Kern der Identitäts-Synthese als das Zusammenwirken von postmodernen und postkolonialen Ansätzen mit Versatzstücken der Critical Race Theory. Diese Kombination wurde ausgehend von US-Hochschulen in „eine einzige kohärente Ideologie zusammengeschweißt“. Ihre Glaubenssätze: Die Ablehnung objektiver Wahrheit, ein Fokus auf Sprache als politisches Betätigungsfeld, der Glaube an unverrückbare Identitäten, „ein stolzer Pessimismus“ über den Zustand westlicher Gesellschaften, ein Konzentrieren auf Gruppen statt auf Individuen und die Überzeugung, dass Verständnis über Gruppengrenzen hinweg kaum möglich ist.   

Ideen der Gleichheit zuwenden 

Für Mounk liegt das Problem angesichts dieser ideologischen Synthese eben nicht in vermeintlichen Exzessen, die sich mit der Zeit schon wieder einrenken, sondern in der Essenz. Es geht nicht darum, dass die Identitäts-Synthese „zu weit geht“, sondern darum, dass sie „nicht einmal im besten Fall“ mit fundamentalen demokratischen Werten in Einklang zu bringen ist, warnt er.

Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der eigenen Biografie als Nachfahre von im Holocaust ermordeten Urgroßeltern und kommunistischer Dissidenten macht Mounk dabei deutlich: Nichts liegt ihm ferner als das Leugnen oder Kleinreden von Diskriminierung. Rassismus und Benachteiligung sind real und ein trauriger Beleg für nicht eingelöste universalistische Versprechen.

Nur: Das Eingeständnis der Unvollkommenheit legitimiert keine Abkehr vom Ziel. Die Ideen der Gleichheit, der Meritokratie und der liberalen Ordnung sind nicht widerlegt, nur weil sie noch nicht überall realisiert sind. Benötigt wird kein Ab-, sondern ein erneutes Zuwenden zu den Traditionen einer universalistischen Linken. Hierbei aber wird das Einteilen von Menschen in immer kleinteiligere Gruppen und das Vernachlässigen ökonomischer Fragestellungen keinen sinnvollen Beitrag leisten, befürchtet Mounk. Und natürlich steht er mit dieser Einschätzung nicht allein. Aus dezidiert sozialdemokratischer Perspektive hat sich hierzu nicht zuletzt Susan Neiman mit ihrem fulminanten Zwischenruf „Links ist nicht Woke“ zu Wort gemeldet. 

Identitätspolitik und Rechtspopulismus

Insbesondere geht Mounk der Frage nach, weshalb die „Identitäts-Synthese“ derzeit über so großen Zulauf verfügt. Unter Rückgriff auf Rudi Dutschke skizziert der Autor den überraschend „kurzen Marsch durch die Institutionen“. Und hier unterscheidet sich sein Blick wohltuend von der simplen anti-Woke Agitationen der Rechten. „Der neue Fokus auf Race, Gender und sexuelle Orientierung ist in Enttäuschung über anhaltende reelle Ungerechtigkeit begründet“, meint Mounk. Deshalb sei es völlig verfehlt, die Identitäts-Synthese und ihre Anhänger kurzum als „unmoralisch“ zu verurteilen. Keine unwichtige Einsicht. 

Und doch bleibt die Kritik eindeutig: Denn selbst die wohlmeinendsten Aktivisten können „unbeabsichtigt echten Schaden anrichten“. Und zwar nicht zuletzt, weil progressive Identitätspolitik in einem Wechselspiel mit dem Rechtspopulismus stehe. „Rechtspopulisten und Fürsprecher der Identitäts-Synthese sehen sich als tödliche Feinde. In Wahrheit aber ist das eine das Ying zu dem Yang des anderen“. Deswegen müssen „Anhänger freier Gesellschaften beides bekämpfen“. 

Nicht Differenz, sondern Humanität zählt

Mounks Einstehen für universelle Werte als Antwort auf identitäre Spaltung beruht dabei auf einem überzeugenden Rückgriff auf die Historie der Emanzipation selbst. Denn schließlich seien die Kämpfe der Vergangenheit – etwa zu Frauenrechten, US-Bürgerrechten oder der Befreiung sexueller Minderheiten – stets dann erfolgreich verlaufen, wenn sie eben nicht die Differenz, sondern die gemeinsame Humanität unterstrichen. Gesellschaftliche Siege erzielt man nicht im Alleingang, sondern durch den überzeugenden Appell an universelle Ideale, mahnt Mounk.

„Die öffentliche Bindung an universelle Werte ermöglichte es der Bürgerrechtsbewegung Gleichheit einzufordern“, schreibt Mounk. Denn der Ruf nach Gleichberechtigung und der Appell an das Gemeinsame ermöglicht breite gesellschaftliche Koalitionen und ist überzeugender als Forderungen nach Vorrechten. Eine Betonung des Trennenden hingegen resultiert in der „Falle der Identität“ – der Identity Trap, wie denn auch der englische Originaltitel des Buchs lautet.

Doch was tun in einer Welt, in der Dissens in diesen Fragen nicht gerade überall auf Verständnis zu treffen scheint? 

Universelle Ideale verteidigen

Hier erweitert das Buch die Perspektive um eine psychologische Dimension. Angesichts der Bedrohung von Rechts hätten Teile des progressiven Lagers regelrechte „Wagenburgen“ errichtet. In diesen werde selbst konstruktiv gemeinter Widerspruch zu einer heiklen Angelegenheit. Nicht zuletzt der Trump-Sieg, meint Mounk, habe dazu geführt, dass Kritik an der Identitäts-Synthese als „disloyal“ ausgelegt werde, als „Verrat“, wenn nicht als „Sabotage“. Bisweilen erinnere der Kampf gegen internen Widerspruch innerhalb des progressiven Lagers geradezu an eine Ersatzhandlung, beobachtet Mounk. „Der Typ am Ende des Flurs mag vielleicht nicht das reine Böse personifizieren, aber manchmal ist er der größte Gegner, über den man ein Mindestmaß an Kontrolle“ ausüben kann.

Für all die „zögerlichen“ oder „stolzen Häretiker“ aber, die sich der „Identitäts-Synthese“ in den Weg stellen, hat Mounk die Empfehlung: Gebt nicht auf, verteidigt die universellen Ideale und zeigt, dass der Kampf gegen Diskriminierung nur mit, nicht gegen universelle Prinzipien gewonnen werden kann. Und zwar ohne dabei selber ins „Reaktionäre“ umzuschlagen. 

Wird das funktionieren? Bislang scheint die Reaktion auf Mounks Plädoyer ambivalent. Die Washington Post lobt, Mounk habe die Geschichte der Wokeness „besser erzählt als jeder andere“. Der Guardian hingegen findet das Buch „verwirrt“, „anfechtbar“ und „kontextlos“ – aber zugleich so ermüdend wie „einen elf Jahre langen Besuch in der Eremitage“. Eine langweilige Provokation also? 

Gerade die überspitzte Kritik dürfte ein Hinweis darauf sein, dass die Debatte nicht einfach wird. Sinnvoll aber ist sie alle Mal. Und Yascha Mounks neues Buch liefert dazu einen überzeugenden Beitrag. 


Yascha Mounk: Im Zeitalter der Identität. Der Aufstieg einer gefährlichen Idee, Klett-Cotta, 28,00 Euro

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Michael Bröning

ist Politikwissenschaftler und Mitglied der SPD-Grundwertekommission.

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