Kultur

Buchtipp: Eine Gebrauchsanweisung für Gleichheit

In seinem neuen Buch „Equality“ skizziert der US-Historiker Darrin McMahon die Entwicklung eines schillernden – und zweischneidigen – Ideals.

von Michael Bröning · 28. Februar 2024
Michael Bröning bespricht das neue Buch „Equality“ des US-Historikers Darrin McMahon.

Michael Bröning bespricht das neue Buch „Equality“ des US-Historikers Darrin McMahon.

Wir leben in einer Zeit der Ungleichheit. Das oberste Prozent raffte in den vergangenen zwei Jahren mehr als zwei Drittel des gesamten neuen Weltvermögens an sich. Und die Schere zwischen schockierender Armut und obszönem Reichtum geht immer weiter auseinander. Höchste Zeit also für mehr Gleichheit, so der Konsens zumindest in weiten Teilen der Linken. 

Gleichheit im Lauf der Jahrtausende

Doch wie definieren wir nicht nur Ungleichheit, sondern ihren Gegenpol, die Gleichheit, ohne uns dabei in Wunschdenken oder Starrsinn zu verlieren? Antworten auf diese Fragen diskutiert Darrin McMahon in seinem schwergewichtigen neuen Buch „Equality. The History of an Elusive Idea“. Übergreifendes Anliegen des Ende 2023 auf Englisch erschienenen Werkes ist dabei kein Plädoyer für mehr – oder weniger – Gleichheit, sondern „die Verfremdung eines Werts, der vertraut erscheint“. Dabei aber zeigt der Autor immer wieder, dass die Politik sich am schillernden Wert der Gleichheit nicht nur die Hände wärmen, sondern auch tüchtig verbrennen kann.

Ein zu wenig ambitionierter Ansatz ist dem Autor dabei kaum vorzuwerfen. Im Gegenteil: Das Buch ist eine geistesgeschichtliche Tour d’Horizon nicht durch Jahrhunderte, sondern durch Jahrtausende und konzentriert sich auf die dicken Bretter. Damit aber steht McMahon durchaus in einer analytischen Tradition von großen Würfen, die nicht zuletzt von Thomas Pikettys „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ gepflegt wurde. Doch wo Piketty mit Formeln und Zahlen arbeitet, liefert McMahon, der am renommierten Dartmouth College in New Hampshire Geschichte lehrt, vielschichtige Erkenntnisse aus Archäologie, Kunstgeschichte und philosophischer Textexegese. 

„Gleichheit ist ein Ideal für Menschen, die sich voneinander unterscheiden“

Ausgangsbasis seiner Spurensuche in Sachen Gleichheit ist dabei die Beobachtung, dass das Gleiche nicht unbedingt mit dem Selben zu verwechseln ist. Equality ist nicht gleichbedeutend mit Sameness, auch wenn im deutschen Sprachgebrauch beide Begriffe häufig als „Gleichheit“ übersetzt werden. Denn Gleichheit als Ideal beruht auf der Beobachtung von Ungleichheit, deren gezielte und punktuelle Überwindung ihren Daseinszweck darstellt. Das aber bedeutet zugleich, dass die Gleichheit in menschlichen Gesellschaften niemals allumfassend werden kann, um nicht ihre Zielsetzung selbst zu untergraben. Eine Gesellschaft völlig identischer Menschen – so die widersprüchliche Einsicht – wäre eben alles, aber nicht gleich. Gleichheit ist ein Ideal für Menschen, die sich voneinander unterscheiden.

Eine Spitzfindigkeit? Nein, denn die Paradoxien der Gleichheit äußern sich politisch in der Tatsache, dass die Umsetzung des Ideals historisch immer wieder mit Exklusion verbunden gewesen ist. Zur Frage der Gleichheit gehörte immer die Frage: Was ist gleich, wer ist gleich – und wer ist es eben nicht? „Gleichheit, Ungleichheit und Ausschluss sind miteinander verwoben“, erklärt der Autor. „Als Menschen wollen wir Gleichheit und wir wollen sie zugleich eben nicht“. Diese Zweideutigkeiten aber sind es, die die Untiefen des Ideals ausmachen.

Eine Achterbahnfahrt mit Schwindeleffekt

Auf mehr als 500 Seiten führt McMahon von Höhlenmalereien und prähistorisch „unbewussten Formen der Gleichheit“ über die Ungleichheitsexzesse in frühen Stadtstaaten bis in die Gegenwart. Zwischenstopps bei den Propheten der „Achsenzeit“, Kleisthenes, Solon, den Stoikern, der französischen Revolution, der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung, Toussaint Louverture, in den Schreibstuben des Marxismus bis zu Malcolm X und bei den Protagonist*innen aktueller Identitätspolitik inbegriffen. Eine Achterbahnfahrt, die durchaus Schwindel auslösen kann – nicht zuletzt, weil McMahon weder mit Fakten noch mit sechssprachig im Original zitierten Quellen knausert. 

Klar herausgestellt wird dabei im Sinne der angestrebten Verfremdung immer wieder, dass Gleichheit eben kein rein gutmütiges und selbsterklärendes Ideal darstellt – auch wenn revolutionäre Parolen selbstredend immer wieder genau diesen Eindruck erwecken. Akribisch arbeitet McMahon vielmehr in einem historischen Beispiel nach dem anderen die „janusköpfige Wirkung des Ideals“ in der Realität heraus. „Gleichheit erfordert Dominanz“, zeigt McMahon und stets wurde im Auftrag der Gleichheit auch die Ungleichheit befördert. Denn konzeptionell stand der Gemeinschaft der Gleichen immer die Gemeinschaft der Ausgeschlossenen gegenüber, die entweder vermeintlich die Idealrealisierung verhinderten oder keinen Anspruch auf sie erheben durften. 

Mit Marx' Mythos aufgeräumt

Nicht zuletzt mit Blick auf die vom Blut der Guillotine durchtränkte französische Revolution verweist McMahon auf den Kollateralschaden von Gleichheit, wenn diese als pauschale Nivellierung gedacht wird. Hier erinnert der Text eindrücklich an den revolutionären Eifer der Epoche, der nicht nur die Zeitgenoss*innen erschütterte, sondern verblüffend an manch einen Überschwang der gegenwärtigen Gleichheitsdebatte erinnert. Das Umbenennen von Straßen und Plätzen, die Regulierung von Sprache, selbst das kritische Reflektieren von Bauwerken als vermeintlich gleichheitsschädigend sind keine Erfindungen der Gegenwart, sondern lassen sich – so der Autor – bis zum Eifer der Sansculotte im revolutionären Paris zurückverfolgen. 

Aufgeräumt wird dabei auch mit dem Mythos, ausgerechnet der Marxismus sei in erster Linie als Philosophie der Gleichheit konzipiert – nicht zuletzt ja ein von Rechtsaußen immer wieder vorgebrachter Vorwurf gegenüber vermeintlich „neomarxistischen“ identitätspolitischen Diskursen. Für Marx und Engels aber – daran erinnert McMahon – ist Gleichheit allenfalls die „Illusion einer Epoche“. Ihr primäres Ziel war nicht Gleichheit etwa in Verteilungsfragen oder an der Wahlurne, sondern die Überwindung von Klassenschranken – ein bedeutsamer Unterschied. 

Gerechtigkeit statt Gleichheit

Erinnert wird dabei auch an die Tatsache, dass nicht zuletzt die deutsche Sozialdemokratie stets einen Sicherheitsabstand zum Ideal der Gleichheit eingehalten hat. Denn der Dreiklang der französischen Revolution – „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ – wurde eben nicht eins zu eins übertragen. In der sozialen Demokratie trat bekanntlich der Grundwert der Gerechtigkeit an die Stelle der Gleichheit.

Doch – und hier geht es bei McMahon durchaus sozialdemokratisch zu – selbst wenn die Umsetzung absoluter Gleichheit konzeptionell und praktisch unmöglich bleibt, rechtfertigt das kein Abwenden vom Ideal. Schließlich verweist die politische Wirklichkeit aus Polarisierung und Fragmentierung nachdrücklich auf die gesellschaftliche Verwüstung, die zu wenig Gleichheit als Hinterlassenschaft anrichtet. 

Gleichheit in neuen Formen denken

Politisches Ziel bleibe deshalb das Aushalten von Ambivalenz und der fortwährende Versuch, den Widerspruch aus Hierarchie und Nivellierung, aus Inklusion und Exklusion, aus Wollen und Nicht-Wollen auszubalancieren. „Wir haben die Fähigkeit, Hierarchien und Dominanz weniger heftig und gerechter auszugestalten, indem wir uns an die Wachsamkeit unserer Vorfahren erinnern und indem wir Gleichheit in immer neuen Figuren und Formen denken“, meint McMahon. 

Warum diese Ambivalenz wichtig ist? Weil durch sie eine prinzipielle und wahrhaftige Verteidigung der Gleichheit gegen Angriffe von rechts möglich wird. 

Carl Schmitt, Friedrich Nietzsche und gegenwärtige Claqueur*innen der Ungleichheit mokieren sich schließlich immer wieder mit geradezu diebischer Freude über den Widerspruch zwischen ideeller Gleichheit und der tagtäglich zu beobachtenden realen Verschiedenartigkeit. „Den Glauben an substanzielle menschliche Gleichheit als Aberglauben zu bezeichnen, ist eine Beleidigung des Aberglaubens“, schreibt aktuell etwa der britische Rechtsaußen-Philosoph Nick Land. Süffisant vergleicht er den Glauben an Gleichheit mit dem an irische Kobolde: „Es mag ungerechtfertigt sein, an Kobolde zu glauben. Aber zumindest müssen wir Kobolden nicht in jeder wachen Stunde des Tages mit eigenen Augen beim nichtexistieren zuschauen“. Die menschliche Ungleichheit aber sei „in all ihrer Fülle“ allzeit direkt zu beobachten. Das Ideal sei deshalb nichts als Aberglaube. Homogenität tritt an die Stelle der Gleichheit. 

Differenz als Ausgangspunkt für mehr Gerechtigkeit

Angesichts dieser Angriffslinie zeigt McMahon im großen historischen Bogen überzeugend, dass Attacken auf die Gleichheit durch Rückgriff auf ihr Fehlen in die Irre laufen und das Prinzip Gleichheit missverstehen. Denn aus progressiver Perspektive darf Gleichheit eben nicht blind sein für Unterschiede, sondern benötigt Differenz als Ausgangspunkt für mehr Gerechtigkeit – gerade vor dem Hintergrund der mit dem Ideal verbundenen Risiken. 

In diesen Zeiten der allgegenwärtigen Pauschalurteile ist McMahons Debattenbeitrag zur Gleichheit deshalb eine kluge, umfassende und gerade aus sozialdemokratischer Perspektive hilfreiche Gebrauchsanweisung für ein so schillerndes wie zweischneidiges Ideal. 

Equality: The History of an Elusive Idea

Basic Books, 2023

515 Seiten.

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Michael Bröning

ist Politikwissenschaftler und Mitglied der SPD-Grundwertekommission.

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