Kultur

„Netzlehrer“ Bob Blume: Wie sieht das Lernen der Zukunft aus?

Warum noch lernen in Zeiten von Smartphones und KI? Mit dem „vorwärts“ spricht Autor und Influencer Bob Blume über das deutsche Bildungssystem und erklärt, wie mehr Selbstwirksamkeit Schüler*innen für Demokratie begeistern kann.

von Vera Rosigkeit und Finn Lyko · 9. September 2024
"Warum noch lernen?" - diese Frage stellt sich "Netzlehrer" Bob Blume in seinem neuen Buch.

"Warum noch lernen?" - diese Frage stellt sich "Netzlehrer" Bob Blume in seinem neuen Buch.

Bob Blume (Foto) ist vieles: Lehrer, Podcaster, Influencer und Autor. Sein Schwerpunkt? Bildung. So spricht er beispielsweise auf seinem über 160.000 Follower schweren Instagram-Account als „Netzlehrer“ über Bildungsthemen wie Digitalisierung, KI und Demokratie, und ist Autor mehrerer Bücher rund um Themen der Unterrichtsgestaltung. Sein neues Buch „Warum noch lernen?“ erscheint am 11. September 2024.

Warum denn noch lernen, Herr Blume?

Bei der Frage „Warum lernen?“ ist meine These, dass das „warum“ ins Hauptzentrum des Lernens gehört. Also, dass man immer hinterfragt „Warum machen wir das eigentlich?“. Studien zeigen, dass nur ein bedeutungsvolles Lernen überhaupt dazu führt, dass sich jemand mit Inhalten auseinandersetzt. Das „noch“ in der Frage ist deshalb so wichtig, weil das eine Frage ist, die sich immer mehr Leute stellen, vor allem Schülerinnen und Schüler. Warum soll ich lernen, wenn die KI das doch machen kann? Warum soll ich lernen, wenn es mir doch für mein eigenes Leben nichts bringt? Und warum soll ich lernen, wenn andere viel bessere Möglichkeiten haben als ich?

Lernen ermöglicht einem, an jedem Bereich der Gesellschaft teilhaben zu können. Denn man kann nicht einfach so teilhaben. Deshalb äußern sich auch diejenigen am wenigsten, die am meisten von Bildungsungleichheit betroffen sind. Es braucht erstmal das Bewusstsein darüber, dass man sich äußern kann.

Davon abgesehen lernen Leute ja auch außerhalb von Schule: Manche gucken zum Beispiel so lange Netflix, bis sie Englisch können. Die digitale Kultur bietet da viel. Gleichzeitig gehen diese Leute dann aber wieder in die Schule und denken „Warum soll ich das machen?“ – entweder, weil die Themen vom eigenen Leben abgekoppelt sind, oder, weil sie die Fähigkeiten schon draufhaben. Das sorgt für ein Ohnmachtsgefühl der Schülerinnen und Schüler – und das ist ein Problem.

Wie kann man dem entgegenwirken?

Erstens muss die Schule als Institution beantworten, warum sie da ist. Zweitens muss diese Antwort darin liegen, dass die Schule der Ort des Lernens ist. In Zeiten vor der Digitalisierung hat Schule mit Lehrer*innen als Wissensvermittler*innen eine sehr klare Funktion gehabt. Heute wird das Lernen aber ausgelagert. Die Lehrer*innen stehen vorne und erklären, wie es geht, aber richtig umgesetzt wird das dann erst zuhause. Da entsteht dann wieder Raum für Ungleichheiten und Probleme – dabei ist Schule eigentlich der Ort, an dem Chancengerechtigkeit noch am besten hergestellt werden kann. Deshalb sage ich: Nicht nur das „warum“ des Lernens muss in die Schule, sondern auch wieder das Lernen an sich.

Müsste sich dafür nicht die komplette Lehrer*innenausbildung ändern?

Ja, fundamental. Aber man muss erst die Erfahrung machen, dass Schule auch anders gehen kann. Das hat mir auch meine persönliche Erfahrung als Lehrer gezeigt. Dabei geht es auch um Selbstwirksamkeit. So kann man im übrigen auch Demokratie vermitteln – indem man Schüler*innen im ganz normalen Unterricht beibringt, Entscheidungen zu fällen und sie Selbstwirksamkeit spüren lässt.

Ich habe mit meinen Schüler*innen zum Beispiel immer gebloggt. Am Anfang habe ich das noch bewertet, irgendwann habe ich das gelassen und nur noch motiviert. Dazu habe ich verschiedene Impulse gegeben, und die Schüler*innen durften ihre Themen frei auswählen. Da kamen die wildesten Beiträge bei raus. Die Schüler*innen haben durch den Wegfall der Benotung die Chance bekommen, zum ersten Mal zu erleben, wie es ist, etwas für sich selbst zu schreiben. Und dann sogar noch für andere, weil andere den Blog gelesen und unter den Beiträgen kommentiert haben. Das ist ein ganz kleines Beispiel dafür, wie Dinge passieren, die Leute nicht für möglich halten: Die Leistungserbringung fand statt, die Schüler*innen haben etwas gelernt, aber gleichzeitig hatten die Projekte persönliche Relevanz für sie.

Also bleibt Leistung eine Kernkomponente von moderner Bildung?

Dafür muss man erstmal den Leistungsbegriff definieren. Mir schreiben Leute manchmal, dass Leistung in der Schule nichts verloren hätte. Das stimmt nicht, finde ich. Im humboldtschen Sinne war Leistung die Idee, dass man sich, unabhängig von der eigenen Herkunft, durch Anstrengung verbessern kann.

Und da sind wir wieder beim Thema Selbstwirksamkeit: Selber zu lernen, dass man etwas leisten kann, hat eine ganz große gesellschaftliche Komponente. Selbstwirksamkeit ist das Gegenteil von Ohnmacht. Und Ohnmacht führt eher dazu, dass man populistischer Rhetorik glaubt.

Bob Blume

„Ohnmacht führt eher dazu, dass man populistischer Rhetorik glaubt.“

Sie sind in den sozialen Netzwerken als Influencer aktiv, haben einen Podcast und arbeiten weiterhin als Lehrer – woher nehmen Sie die Motivation?

Da fallen bei mir drei Dinge zusammen: Erstens war ich selber auf einer Reformschule und habe dort Selbstwirksamkeit erlebt, weil es keine Noten oder ähnliches gab. Ich habe erlebt, wie es konkret anders gehen kann.

Die zweite Motivation ist, dass mir mittlerweile sehr viele Menschen schreiben, wie frustriert sie sind. Und drittens motiviert es mich natürlich zu merken, dass das, was ich tue, eine gewisse Wirksamkeit entfaltet – das ist sehr sinnstiftend für mich. 

Haben Sie eine Vision von einem idealen Bildungssystem?

Auf jeden Fall – das ganze Buch ist eigentlich die Vision. Der wichtigste Satz ist da die Übersetzung des ersten Artikels des Grundgesetzes durch den Theaterpädagogen George Tabori: „Jeder ist jemand“. Darin liegt eine unglaubliche Kraft. Ein anderer schlauer Satz stammt von einem englischen Philosophen: „Bildung ist der Erwerb der Kunstfertigkeit, sich Wissen nutzbar zu machen“. Da ist sehr viel von dem drin, was ich schon angedeutet habe. Bildung ist Lernen, keine abgeschlossene Checkliste von Dingen, die man wissen muss.

Bei dieser ganzen Vision ist übrigens die Lehrer*innenausbildung ein großer Haken. Denn die geht oftmals davon aus, dass Unterricht auf eine bestimmte Art gestaltet werden muss und zu sein hat. So legt man sich selbst ein Korsett an. In einem Unterricht, der mir als Vision vorschwebt, wäre das anders, da machen alle Schüler*innen verschiedene Sachen: Drei sind am Texteschreiben, andere diskutieren, und so weiter. Das ist dann nicht mehr der traditionelle Frontalunterricht. Am Ende läuft es auch hier wieder darauf hinaus: Das Lernen muss ins Zentrum, nicht das operationalisierte Lernen, sondern Lernen als Tätigkeit.

Bob Blume

„Bildung ist der Erwerb der Kunstfertigkeit, sich Wissen nutzbar zu machen“

Wie könnte man das umsetzen?

Das muss von verschiedenen Seiten kommen: Von den Lehrpersonen und Eltern, von der Politik und von der Verwaltung. Bildung wird stark von einem Blick zurück geprägt, und das suggeriert Normalität. Bildung ist immer das, was Lehrpersonen und Eltern vorher als Bildung erfahren haben – das schafft einen Selbsterhaltungstrieb.

Die Politik hat diese Problematik auch – wo Entscheidungen oft auf der Realität beruhen, die jemand selbst kennengelernt hat, und nicht auf der bestehenden Realität. Deshalb ist eine ständige Rückkopplung auch so wichtig, die haben wir in einem hierarchischen System aber nicht. 

Die Verwaltung ist der dickste Brocken, auch weil sie von juristischen Erwägungen bestimmt ist. Aber in der Verwaltung muss eine Idee davon entstehen, was Schule ist, damit keine Entscheidungen aneinander vorbei gefällt werden. Sonst gibt es beispielsweise weiterhin Fälle, in denen das Land Geld für die Kommune zur Verfügung stellt, die Kommune dann den Schulträger beauftragt und der Schulträger letztlich Laptops kauft, die für die Schule aber nicht brauchbar sind.

Sollte die Politik nicht ein Interesse daran haben, Bildung zukunftsorientiert zu gestalten?

Natürlich. Aber das System funktioniert eben noch gerade so. Und innerhalb eines Systems, dass immer gerade so noch funktioniert, profitieren eben auch Menschen – nämlich die, die in das System hineinpassen.

Der Soziologe Aladin El-Mafaalani hat mal zwei Dinge gesagt, die ich sehr bedenkenswert finde. Erstens: Wir wissen schon, dass wir gegen die Wand fahren – wir sind aber gerade noch dabei, den Bremsweg auszurechnen. Und zweitens sprach er, was die Bildungspolitik angeht, vom größten innenpolitischen Problem Deutschlands. Kurzum: Selbst wenn man völlig wirtschaftsorientiert ist, muss man sehen, dass zwischen der aktuellen Situation und dem, was notwendig wäre, eine riesige Lücke klafft.

Saskia Esken hat im vergangenen Jahr ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für den Bildungssektor gefordert.

Eine interessante Zahl, denn beim Dresdner Bildungsgipfel von 2008 wurden sechs Punkte vereinbart. Einer davon war, jedes Jahr zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts in Bildung zu stecken. Das wurde in keinem Jahr erreicht, würde sich aber aufsummieren auf die Summe, die Saskia Esken genannt hat. Das ist also nichts, was neu wäre, sondern ergibt sich aus Versprechen, die schonmal gegeben wurden.

Die Situation im Bildungsbereich wirkt allgemein ziemlich hoffnungslos. Sehen Sie irgendwo etwas, das aktuell gut läuft?

Das Startchancenprogramm zum Beispiel. Aber auch alle Gewinner des deutschen Schulpreises. Denn die sind alle exzellent in Kategorien, die für eine Gesellschaft im digitalen Wandel und für ein Einwanderungsland fundamental wichtig sind. Da geht es um Innovation, Leistung und Diversität. Und es gibt Schulen, die das alles richtig gut machen, es gibt tolle Projekte und Initiativen, die jetzt schon Dinge anders und besser machen. Aber die bräuchten deutlich mehr Aufmerksamkeit und Unterstützung.

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