Kultur

Nachruf auf Oskar Negt: ein „konstitutioneller Sozialdemokrat“

Politik war für ihn Schnecken- und Maulwurfsarbeit. Der SPD blieb Oskar Negt trotz seines frühen Ausschlusses Zeit seines Lebens eng verbunden. Nun ist der Sozialphilosoph im Alter von 89 Jahren gestorben.

von Klaus-Jürgen Scherer · 5. Februar 2024
Oskar Negt ist am 2. Februar im Alter von 89 Jahren gestorben.

Oskar Negt ist am 2. Februar im Alter von 89 Jahren gestorben.

Der bedeutende Soziologe und Sozialphilosoph Oskar Negt ist im Alter von 89 Jahren gestorben. Umfassende Würdigungen sind bereits, wie von Willi Winkler in der Süddeutschen Zeitung erschienen. Bei Steidl ist die 20 bändige, 8624 Seiten umfassende Werkausgabe seiner Schriften noch zu seinen Lebzeiten erschienen – das ist ein gewaltiges Lebenswerk, das überlebt. Bleibt hier ein besonderes, für die Sozialdemokratie wichtiges politisches Schlaglicht auf sein Wirken zu richten.

Brückenbauer zwischen Studentenrevolte und Arbeiterbewegung

Negt war der wohl wichtigste Brückenbauer zwischen der 68er Studentenrevolte und der Arbeiterbewegung, war Assistent bei Jürgen Habermas, mit den radikalsten Pseudorevolutionären in kritischer Auseinandersetzung, und zudem de facto Leiter der DGB-Bundesschule in Oberursel. 1954 in die SPD eingetreten, mit dem Unvereinbarkeitsbeschluss gegenüber dem SDS sieben Jahre später ausgeschlossen, blieb er „konstitutioneller Sozialdemokrat.“ 

Theorie und Praxis der Arbeiterbildung war eines seiner zentralen Lebensthemen: durch Bildung und Lernen die „öffentlichen Tugenden“ und das handelnde Selbstbewusstsein gegen den „Verblendungszusammenhang“ zu stärken. Sein Motto: „Demokratie muss gelernt werden, immer wieder“ passt gerade in diese Tage des zivilgesellschaftlichen Aufstandes gegen den erstarkten Rechtsextremismus. Habermas lobte einst: „Ich kenne keinen zeitgenössischen Philosophen, der ‚Bildung‘, den Grundbegriff jener Epoche von Kant und Herder bis Hegel und Marx, empathischer, ja inbrünstiger nach- und ausbuchstabiert hätte als Oskar Negt.“

Ein treuer Unterstützer der SPD

Negt verband kritische Theorie und innovative Gesellschaftsanalyse – die Boomer-Generation begleiteten die gemeinsam mit Alexander Kluge geschriebenen dicken Wälzer wie Öffentlichkeit und Erfahrung oder Geschichte und Eigensinn – mit eindeutigem politischen Werben für die SPD. Etwa gehörte er neben Klaus Staeck, Günter Grass und Johano Strasser zu den entscheidenden Initiatoren der „Aktion für mehr Demokratie“, die jahrzehntelang die SPD mit klugen Wahlaufrufen von Kulturschaffenden, Wissenschaftlern und Gewerkschaftlern unterstützte. Das Vertrauen war groß, man konnte seine Unterschrift auch schon mal ohne Rücksprache benutzen, nie gab es Ärger.

Als ein der Aufklärung verpflichteter öffentlicher Linksintellektueller, der Partei ergreift – nicht als Claqueur, sondern mit eigenen Argumenten, daher besonders glaubhaft – prägte er viele Diskurse mit. Oft wird der Anteil Negts am rot-grünen Erfolg von 1998 unterschätzt, dabei gehörte er sogar zum Beraterkreis Schröders. Und nicht nur sein Büchlein „Warum SPD? 7 Argumente für einen nachhaltigen Mach- und Politikwechsel“ wirkte, auch das legendäre Aufeinandertreffen des Kanzlerkandidaten mit Jürgen Habermas im Willy-Brandt-Haus bereitete er mit vor. Wir im Kulturforum der Sozialdemokratie konnten uns immer auf seinen Rat und sein Engagement verlassen. Gerne halfen wir mit, als Günter Grass ihm 2012 den ersten August-Bebel-Preis für sein sozial verpflichtetes Lebenswerk verlieh. 

In der Tradition des Linkssozialismus

Eine weitere verbindende Brücke – mittlerweile so marode wie die Autobahnbrücken der 60er Jahre – für die Negt ein Leben lang stand, ist die Verbindung aus Demokratischem Sozialismus und realpolitischem Eingreifen. Dass das Politische gegenüber der Marktgesellschaft wiedergewonnen werden müsse, dass es auf die bewusste Steuerung der Reichtumsverteilung ankomme, sind bleibende Aufgaben. Im guten Sinne steht Negt in der Tradition des Linkssozialismus, er sagte, Utopie sei ein Antidepressivum. 

Nicht von ungefähr hatte er in den 70er Jahren, als sich die Neue Linke dogmatisch zersplitterte, mit dem Sozialistischen Büro in Offenbach eine Koordinierung und realistischere Perspektive versucht. Negts Denken lag im Grunde nahe an der langfristigen Reform- und Infrastrukturpolitik des Austromarxismus, besonders die Verbindung von Immanuel Kant und Karl Marx, von der auch schon Eduard Bernstein schrieb, hatte es ihm angetan. Jetzt zum 300. Geburtstag von Kant wäre es vielleicht keine schlechte Idee, sein vergriffenes „Epochengespräch“ Kant-Marx neu herauszugeben, könnte doch die Renaissance der Verbindung von Kantischer Ethik und verantwortungsbewusstem Sozialismus auch der heutigen SPD mehr Orientierung geben.

Politik als Schnecken- und Maulwurfsarbeit

Zum Abschluss dieser knappen Erinnerungen sei an das „tierische“ Politikverständnis von Negt als Schnecken- und Maulwurfsarbeit erinnert.

„Der Fortschritt ist eine Schnecke“, die Grass‘sche Redewendung für Reformpolitik, wird von Negt dahingehend präzisiert, dass diese keine Absage an die Revolutionierung der Verhältnisse sei – und diese zudem immer auch von Rückschritt bedroht ist. Anders als bei dogmatischen Linken geht es Negt nicht um die Übertragung von theoretischen Reflexionen in politische Praxis, sondern um die „Umsetzung des Möglichkeitssinns“. Dabei – auch etwas zum Nachdenken – seien „Utopiefähigkeit“ und „Erinnerungsfähigkeit“ zwei Seiten einer Medaille.

Das zweite Tier, der Maulwurf, der „große dialektische Wühler“, decke die unterschlagene Kehrseite der Dinge auf und wende die Dinge dadurch zum Besseren. Er, als Synonym des politischen Intellektuellen, versetzt keine Berge, würde aber sehr wohl „Hügel der Hoffnung“ produzieren, „deren Grabensysteme eines Tages die Oberflächenwirklichkeit von Herrschaft und Unterdrückung zermürben können“. 

Dies war – übrigens bei der damaligen Bebelpreisverleihung – eine wunderbare Selbstbeschreibung von Oskar Negt. Denn dieser verlor, obwohl ein großer Theoretiker und Vordenker, wie der Maulwurf nie die „lebendige Bodenhaftung“. In Erinnerung bleibt auch die Freude des Zuhörens, sich seiner dialektisch-aufklärerischen und freundlich-zugewandten Art zu dozieren ganz hinzugeben. Er wird uns auch in dieser Hinsicht fehlen.

Autor*in
Klaus-Jürgen Scherer

ist Redakteur der Neuen Gesellschaft/Frankfurter Hefte.

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