Geschichte

Vor 25 Jahren: Als Deutschland eine rot-grüne Bundesregierung bekam

Nach 16 Jahren CDU-Regierung unterzeichnen SPD und Bündnis 90/Die Grünen am 20. Oktober 1998 den ersten rot-grünen Koalitionsvertrag im Bund. Ihr Ziel: ein fortschrittliches Deutschland. Gerhard Schröder wird dritter Bundeskanzler der SPD.
von Thomas Horsmann · 19. Oktober 2023
Gerhard Schröder, Parteichef Oskar Lafontaine und der designierte Vize-Kanzler Joschka Fischer mit dem in nur zwei Wochen erarbeiteten ersten rot-grünen Koalitionsvertrag
Gerhard Schröder, Parteichef Oskar Lafontaine und der designierte Vize-Kanzler Joschka Fischer mit dem in nur zwei Wochen erarbeiteten ersten rot-grünen Koalitionsvertrag

Kanzlerkandidat Gerhard Schröder, Parteichef Oskar Lafontaine und der designierte Vize-Kanzler Joschka Fischer sind aufgeräumter Stimmung. Gemeinsam halten sie eine rotgrüne Mappe in die Kameras der Journalist*innen. In der Bonner Landesvertretung von Nordrhein-Westfalen, direkt neben dem Bundeskanzleramt, wird an diesem 20. Oktober 1998 Champagner ausgeschenkt. Der erste Koalitionsvertrag zwischen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Bundesebene ist unterzeichnet. Er wird in nur zwei Wochen ausverhandelt, schneller als jeder andere Koalitionsvertrag in der Geschichte der Bundesrepublik.

Nach 16 Jahren CDU-Regierung

Überschrieben ist er mit „Aufbruch und Erneuerung – Deutschlands Weg ins 21. Jahrhundert“. Er gibt damit die Stimmung wieder, die die SPD zum Sieg bei der Bundestagswahl am 27. September 1998 führt. Nach 16 Jahren CDU-Regierung ist Deutschland wie gelähmt, die Arbeitslosigkeit steigt, die Sorgen um soziale Sicherheit und Wirtschaft treibt die Menschen zu Protesten auf die Straße. Deutschland steckt im Reformstau.

Frischen Wind verspricht dagegen die SPD mit Kanzlerkandidat Schröder und Parteichef Lafontaine, der eine beflügelt die Linken in der Partei, der andere beschwört die „Neue Mitte“. Gemeinsam mit den Grünen wollen sie regieren und fordern ehrgeizige Reformen, Innovationen und soziale Gerechtigkeit. Die Arbeitslosigkeit wollen sie mit einer umfassenden Modernisierung des Landes bekämpfen. Das kommt an. Viele junge Menschen engagieren sich für die Sozialdemokratie. Der Funke springt über, es herrscht eine euphorische Aufbruchstimmung.

Dritter Kanzler von der SPD

Die Union kommt nach starken Verlusten nur noch auf 35,2 Prozent, die SPD erhält 40,9 Prozent der Stimmen, die Grünen erreichen 6,7 Prozent. Das reicht für eine rot-grüne Mehrheit im Bundestag. Nach Willy Brandt und Helmut Schmidt wird Gerhard Schröder der dritte sozialdemokratische Kanzler der Bundesrepublik Deutschland.

Doch bevor es soweit ist, gibt es die Koalitionsverhandlungen mit den Grünen. Parteichef Lafontaine übernimmt den Vorsitz bei den Verhandlungen auf Grundlage des von der SPD beschlossenen Regierungsprogramms. Am Verhandlungstisch in der NRW-Landesvertretung sitzen von Freitag, dem 2. Oktober, an die Parteivorstände von SPD und Grünen. Klar ist, dass Schröder Kanzler wird und Fischer Außenminister und Vize-Kanzler.

Doch auch Lafontaine will unbedingt ins Kabinett und seine finanzpolitischen Vorstellungen verwirklichen. Er setzt für sich ein Superministerium durch, das dem britischen Schatzamt ähnelt und so etwas wie ein zweites Machtzentrum neben dem Kanzleramt werden soll. Ex-Parteichef Rudolf Scharping muss auf den Fraktionsvorsitz verzichten und übernimmt das Verteidigungsministerium, Otto Schily wird Innenminister, Franz Müntefering Verkehrsminister. Jürgen Trittin von den Grünen übernimmt das Umweltministerium.

Konflikt schon angelegt

Schröder drückt aufs Tempo. Ihn stört es nicht, dass seine Vorstellungen der künftigen Wirtschafts- und Finanzpolitik deutlich von denen Lafontaines abweichen. Mit den Ideen einer linken Volkspartei hat er nichts am Hut. Und als Kanzler bestimmt er, wo es langgeht. Der spätere Konflikt zwischen Schröder und Lafontaine, der zum Rücktritt des Parteichefs führt, ist hier schon angelegt.

Am 20. Oktober 1998 ist die rot-grüne Koalition in „trockenen Tüchern“ und hat ehrgeizige Reformprojekte vereinbart: Ein Bündnis für Arbeit und Ausbildung soll eine Trendwende schaffen und die Arbeitslosigkeit abbauen. Die Modernisierung des Staates soll mit sozialer Balance erfolgen. Eine Steuerreform, ein neues Staatsbürgerrecht und der schrittweise Atomausstieg werden angestrebt. Eine Woche später, am 27. Oktober 1998, wählt der Bundestag Gerhard Schröder zum Bundeskanzler.

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