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Bundestagspräsidentin: „Ist das Grundgesetz noch zeitgemäß, Bärbel Bas?“

„Demokratien sind immer gefährdet“, sagt Bundestagspräsidentin Bärbel Bas. Die Politik allein könne sie jedoch nicht schützen. Vertrauen will sie auch mit einem neuen Instrument schaffen.

von Karin Nink und Kai Doering · 19. April 2024
Bundestagspräsidentin Bärbel Bas: Leider werden wir dem Anspruch der Gleichberechtigung von Frauen und Männern bis heute noch nicht ganz gerecht.

Bundestagspräsidentin Bärbel Bas: Leider werden wir dem Anspruch der Gleichberechtigung von Frauen und Männern bis heute noch nicht ganz gerecht.

Am 23. Mai vor 75 Jahren wurde das Grundgesetz verkündet. Welche Rolle spielt es in Ihrem Alltag?

Das Grundgesetz spielt in unser aller Alltag eine große Rolle, auch wenn wir es wahrscheinlich oft gar nicht merken. Wenn es etwa um die freie Äußerung der eigenen Meinung – Artikel 5 – oder die Versammlungsfreiheit – Artikel 8 – und vieles mehr geht, das uns selbstverständlich erscheint. Mit dem Grundgesetz verbinde ich persönlich auch einen sehr schönen Moment, weil ich schon einmal das Originaldokument von 1949 in den Händen halten durfte.

Wie kam es dazu?

Das Original des Grundgesetzes mit den Unterschriften von Mitgliedern des Parlamentarischen Rates sowie Vertretern der Bundesländer und Berlins befindet sich unter optimalen klimatischen Bedingungen im Parlamentsarchiv des Bundestags. 

Diese Urschrift wird nur zu zwei Anlässen hervorgeholt: bei der erstmaligen Vereidigung einer Bundespräsidentin oder eines Bundespräsidenten und bei der Vereidigung der Kanzlerin beziehungsweise des Kanzlers. 

Als Olaf Scholz 2021 seinen Amtseid abgelegt hat, habe ich das originale Grundgesetz in den Händen gehalten. Das war schon ein sehr besonderer Moment, der auch demütig macht. Zum 75. Geburtstag im Mai wird das Originaldokument übrigens im Reichstagsgebäude für die Öffentlichkeit zugänglich sein.

Bärbel Bas

Das Grundgesetz bildet seit einem Dreivierteljahrhundert die feste Basis unserer Demokratie.

Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben es fußend auf den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs und des Scheiterns der Weimarer Republik entworfen. Ist es heute, 75 Jahre später, noch zeitgemäß?

Ja, auf jeden Fall. Ich finde schon allein sehr beeindruckend, in welch kurzer Zeit die Mütter und Väter das Grundgesetz entwickelt haben. Das Grundgerüst und die Grundrechte sind heute genauso aktuell wie damals, auch wenn wir im Laufe der Zeit Veränderungen vorgenommen haben. 

Das Grundgesetz bildet seit einem Dreivierteljahrhundert die feste Basis unserer Demokratie, und ich habe großen Respekt vor dem Weitblick des Parlamentarischen Rates. Eine besonders kluge Idee war, dass die in den Artikeln 1 und 20 des Grundgesetzes niedergelegten Grundsätze nicht verändert werden können. 

Nach dem Fall der Mauer gab es Bestrebungen, das Grundgesetz durch eine gemeinsame Verfassung zu ersetzen. Wurde da eine Chance verpasst?

Das Grundgesetz war zu Anfang als Provisorium gedacht. In Artikel 146 ist ausdrücklich seine eigene Ablösung formuliert, wenn eine gemeinsame Verfassung beschlossen wird. Dabei dachten die Mütter und Väter an die Wiedervereinigung mit den sowjetisch besetzten Gebieten, der späteren DDR. 

Bei der Wiedervereinigung 1990 hat man sich dann auf die Ausweitung des Grundgesetzes auf die gesamte Bundesrepublik geeinigt. Es kam zum Beitritt nach dem alten Artikel 23 GG, der dann aufgehoben und 1992 durch den Europa-Artikel ersetzt worden ist. Damit wurde das Grundgesetz zur Verfassung des wiedervereinigten Deutschlands. Seitdem bildet es den Maßstab für alle Gesetzesvorhaben, mit denen wir den aktuellen Herausforderungen begegnen wollen. Und da gibt es gerade in diesen Zeiten ja einige.

Zum Beispiel?

Im Grundgesetz steht in Artikel 3, dass Männer und Frauen gleichberechtigt sind und der Staat auf die Beseitigung bestehender Nachteile hinwirken soll. Darauf gestützt wurde zum Beispiel 1997 die Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe gestellt. Viel zu spät! Es zeigt aber, was die eher allgemein gehaltenen Formulierungen des Grundgesetzes konkret bewirken können. Leider werden wir dem Anspruch der Gleichberechtigung von Frauen und Männern bis heute noch nicht ganz gerecht.

Bundestagspräsidentin Bärbel Bas im Interview, Foto: Dirk Bleicker | vorwärts

Trotzdem gibt es eine zunehmende Anzahl von Menschen im Land, die das Gefühl haben, Deutschland sei mehr eine Diktatur als eine Demokratie. Wie erklären Sie sich das?

Jede und jeder darf in Deutschland bis zur Grenze der Strafbarkeit alles sagen, ohne staatliche Konsequenzen fürchten zu müssen. Allein schon diese Tatsache zeigt ja, dass die Aussage Unsinn ist. Stichwort: Meinungsfreiheit. Ich empfehle auch immer, einen Blick auf Diktaturen in der Welt zu werfen, wo Menschen gefoltert oder sogar getötet werden, wenn sie ihre Meinung sagen. 

Dass zunehmend mehr Menschen unser Land für eine Diktatur halten, hat vermutlich mit der Corona-Zeit zu tun. Da ist Vertrauen kaputtgegangen, weil zum ersten Mal spürbar Freiheitsrechte eine Zeit lang eingeschränkt wurden. Das rechtfertigt aber nicht das Gerede von einer Diktatur. Dafür habe ich überhaupt kein Verständnis.

Wie lässt sich verloren gegangenes Vertrauen in die Demokratie zurückgewinnen? 

Wir müssen wieder Vertrauen schaffen, dass die Politik die Probleme der Bürgerinnen und Bürger lösen kann. Dafür ist es ganz wichtig, wieder mehr miteinander ins Gespräch zu kommen. Wir Abgeordnete sind in der Pflicht, in den Wahlkreisen präsent und gesprächsbereit zu sein. Also Graswurzelarbeit im besten Sinne zu leisten. 

Ein ähnliches Ziel verfolgen die Bürgerräte. Das Bürgergutachten des ersten Bürgerrates habe ich Mitte Februar entgegengenommen. Die 160 Mitglieder habe ich auch gefragt, ob sich ihr Blick auf die Politik über die Monate der gemeinsamen Arbeit verändert hat. Viele haben mir gesagt, dass sie erst jetzt verstehen, wie schwierig die Kompromisssuche ist. 

Genau das macht aber eine lebendige Demokratie aus. Die Menschen wollen mitreden und sich einbringen. Wir müssen die richtigen Angebote machen. Einige aus dem Bürgerrat haben auch angekündigt, jetzt in bestimmten Projekten weiterarbeiten zu wollen. Das macht mir Mut.

Bärbel Bas

Die Politik allein kann die Demokratie nicht schützen.

Für wie gefährdet halten Sie die Demokratie in Deutschland und in Europa?

Demokratien sind immer gefährdet. Dass Deutschland sich vor 75 Jahren auf diesen Weg gemacht und ihn nicht verlassen hat, war ein großer Glücksfall. 

Das ist aber alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Populisten und Extremisten vernetzen sich europa- und weltweit. Länder wie Ungarn und bis vor kurzem Polen haben gezeigt, wie schnell Demokratien in Gefahr geraten können. 

Die Politik allein kann die Demokratie nicht schützen. Dafür braucht es Demokratinnen und Demokraten. Deshalb machen mir die zahlreichen Demonstrationen seit Anfang des Jahres überall bei uns im Land Hoffnung – auch, weil daraus jetzt vielerorts ein dauerhaftes Engagement für die Demokratie erwächst. 

Mindestens genauso wichtig ist es aber, verantwortungsbewusst wählen zu gehen. Die nächste Gelegenheit dazu gibt es schon am 9. Juni bei der Europawahl.

Tragen Sie als zweithöchste Repräsentantin des Staates nach dem Bundespräsidenten eine besondere Verantwortung für die Demokratie?

Ja, diese große Verantwortung nehme ich wahr. Unsere Aufgabe als Verfassungsorgan ist, die Kraft des Wortes zu nutzen. Wir müssen uns laut zu Wort melden, eine Richtung geben, die Menschen stärken und manchmal auch Mut machen. Hier sehe ich meine Pflicht als Bundestagspräsidentin – auch als Gegenpol zu denen, die die Demokratie und ihre Institutionen verächtlich machen. 

Es fängt bei der Sprache an. Und deshalb werde ich nicht müde, meine Kolleginnen und Kollegen an ihre Vorbildfunktion zu erinnern, wenn wir im Plenum den notwendigen politischen Streit führen. Hart in der Sache, aber im Ton und in der Wortwahl angemessen und nicht verletzend. Damit das besser wird, muss aus meiner Sicht zum Beispiel das Ordnungsgeld kräftig erhöht werden, damit Verfehlungen den Abgeordneten auch wehtun.

Welche Rolle spielt Bildung für die Demokratie?

Eine sehr wichtige. Deshalb bin ich auch eine große Verfechterin des Wahlalters 16 und sehr gespannt auf die Wahlbeteiligung der 16- und 17-jährigen Erstwählerinnen und Erstwählern bei der Europawahl. 

Meine große Hoffnung ist, dass sich Schulen dann noch viel mehr mit politischer Bildung und Demokratiebildung beschäftigen. Es gibt da schon gute Beispiele, aber es müssten noch viel mehr werden.

Autor*in
Karin Nink und Kai Doering

sind Chefredakteurin und stellvertretender Chefredakteur des „vorwärts“.

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