Kultur

„Von Berlusconi zu Meloni“: Wie in Italien der Faschismus an die Macht kam

Wie lässt sich der Erfolg der italienischen Postfaschist*innen unter Giorgia Meloni erklären? Der Italien-Korrespondent Michael Braun hat einen Versuch der Klärung gewagt. Er sieht eine Linie durch 30 Jahre italienische Politik.

von Lea Hensen · 7. Oktober 2024
Zwei Freunde im Geiste: Silvio Berlusconi (links) und Giorgia Meloni im Januar 2023

Zwei Freunde im Geiste: Silvio Berlusconi (links) und Giorgia Meloni im Januar 2023

Überall in Europa greifen Rechtsextreme nach der Regierung: Ob in den Niederlanden mit Geert Wilders, in Frankreich mit Marine Le Pen und möglicherweise bald auch in Deutschland mit der AfD. Wie auf eine Art Urknall blicken viele heute auf die italienischen Parlamentswahlen von 2022, als Giorgia Meloni das Schreckgespenst des Faschismus zurückholte. „Fratelli d’Italia“ ist die erste westeuropäische Partei, die in direkter Erblinie zum Faschismus steht und nun regiert.

Doch zwei Jahre später scheint es, als ob Europa mit Blick auf Italien ein wenig aufgeatmet hat. Denn Fotos mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen oder US-Präsident Joe Biden zeigen: Die demokratischen Parteien haben Giorgia Meloni wohlwollend empfangen. Zu einem Zeitpunkt, an dem deswegen schon einige Medien vertönen, die Postfaschistin sei gar nicht „so schlimm“ wie gedacht, legt Michael Braun ein Buch vor, das mit dieser These aufräumt. Der Italien-Korrespondent der taz und Programmdirektor der Friedrich-Ebert-Stiftung in Rom lebt seit 20 Jahren in Italien. Er hat bereits zwei Werke über das Mittelmeerland veröffentlicht: „Italiens politische Zukunft“ (1994) und auf Italienisch: „Mutti. Angela Merkel für Italiener erklärt“ (2015). 

Aufstieg und Fall des Silvio Berlusconi

Seine neuste Italien-Analyse „Von Berlusconi zu Meloni. Italiens Weg in den Postfaschismus“ ist soeben im Dietz-Verlag erschienen. Braun zeigt darin, dass Italiens problematisches Verhältnis zum Faschismus tiefgreifender ist als viele denken. Dazu spannt er einen Bogen von mehr als 30 Jahren.

Denn der antifaschistische Konsens, auf dem die italienische Verfassung fußt, wurde schon 1994 aufgekündigt. Damals implodiert in Italien die sogenannte Erste Republik: Die Christdemokrat*innen hatten seit Ende des Zweiten Weltkriegs fast durchregiert, die Kommunist*innen dominierten die Opposition. Doch das traditionelle Parteiensystem bricht zusammen, als ein fast flächendeckendes System an Schmiergeld-Zahlungen durch Politiker und Unternehmer öffentlich wird. Damals riecht einer die Gunst der Stunde: der Godfather des Populismus, Silvio Berlusconi.

Gerade die Kapitel über die unsäglichen Skandale des Polit-Entertainers sind Braun besonders gut gelungen. So einiges ist einem noch im Gedächtnis, anderes hat man lieber verdrängt: Etwa, dass der Presidente höchstpersönlich bei der Mailänder Polizei anrief, um die Freilassung der minderjährigen Prostituierten Ruby zu fordern, mit der er eine Affäre hatte. Er sagte einfach, sie sei die Nichte des ägyptischen Präsidenten Hosni Mubarak. Oder wie er Abgeordnete im Senat einfach erkaufte, um an eine Mehrheit zu kommen. Und ein Gesetz nach dem anderen verabschiedete, das ihn vor strafrechtlicher Verfolgung bewahrte. Da fasst man sich beim Lesen an den Kopf. 

Galionsfigur in italienischen Wahlen

Braun erklärt strukturiert, wie Berlusconi lange vor Meloni die radikal rechten Kräfte wieder hoffähig machte und zu Parteien wachsen ließ, die rechts der Mitte unabdingbar wurden – weil sie dort ein Vakuum füllten. Berlusconi hat Italien dreimal regiert: von März bis Dezember 1994, von 2001 bis 2006 und von 2008 bis 2011. Aber auch die Regierungen dazwischen kommen in seiner Analyse nicht zu kurz. 

Oft wird den Italiener*innen ja angekreidet, sie hätten ihren Presidente schließlich immer wieder neu gewählt. Dabei rückt in den Hintergrund, wie zerstritten und zersplittert Italiens Demokrat*innen häufig waren. Es ist ein Verdienst der Analyse zu zeigen, wie sehr italienische Wahlen außerdem an einzelne Personen geknüpft sind, die zur Galionsfigur ihrer Partei oder Bewegung werden. Braun sieht da Parallelen zwischen dem Rechtspopulisten Berlusconi, dem Sozialdemokrat Matteo Renzi und dem ehemaligen Chef der Fünf-Sterne-Bewegung Beppe Grillo. 

Querschnitt des italienischen Missverhältnisses zum Faschismus

Zwischen den Zeilen von Brauns Buch steht somit: Da, wo sich eine Parteienlandschaft verschiebt, demokratische Strukturen sich verformen, entsteht immer auch ein Risiko für Wählerfrust und damit extreme Tendenzen. Und so ist Michael Brauns Buch ein Querschnitt des italienischen Missverhältnisses zum Faschismus, der durchaus als Warnung für aktuelle Entwicklungen in Deutschland gelesen werden kann. 

Seine Analyse endet bei Giorgia Meloni, die sich bis heute nie eindeutig von Mussolini distanziert und plant, Italien zu einem Präsidialsystem umzugestalten. „Tiefe Wurzeln gefrieren nicht“, zitiert Braun Anhänger der „Fratelli d’Italia“ über ihr Verhältnis zum Faschismus. Bei den Europawahlen im Juni 2024 erhielt die Rechtsallianz zusammen 47 Prozent. Viele fragen sich: Wieso bekommt Meloni so viel Zustimmung, wieso entsteht in Italien kein Widerstand, wie er sich vor den Neuwahlen in Frankreich im Juli formierte? 

Michael Braun liefert die Antwort: Die Italiener*innen haben sich schlicht an die Grenzverschiebung gewöhnt. Doch er lässt auch Raum für eine Perspektive – in der italienischen wie deutschen Politik: Nur wenn die demokratischen Parteien zusammenhalten, können sie verhindern, dass Postfaschist*innen ihre Ziele durchsetzen.

Michael Braun: Von Berlusconi zu Meloni. Italiens Weg in den Postfaschismus, Dietz 2024, ISBN 978-3-8012-0685-7, 20 Euro

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