Kultur

Buch „Countdown“: Vom Schrecken der atomaren Abschreckung

Ein Blick auf die Menschen im System der atomaren Bewaffnung: Sarah Scoles Buch „Countdown: The Blinding Future of Nuclear Weapons“ ist ein beklemmendes Werk zur rechten Zeit.

von Michael Bröning · 31. Mai 2024
Countdown: The Blinding Future of Nuclear Weapons: ein beklemmendes Werk zur rechten Zeit

Countdown: The Blinding Future of Nuclear Weapons: ein beklemmendes Werk zur rechten Zeit

Es zählt zu den Besonderheiten der aktuellen politischen Debatte, dass manche Bedrohungen allgegenwärtig medial beschworen werden, während andere weitgehend ausgeblendet bleiben. Nukleare Eskalation? Bangemachen gilt nicht! Die Angst vor der Bombe als moralisches Versagen. So lässt sich die Augen-zu-und-durch-Haltung von manchen besonders kategorischen Strateg*innen derzeit auf den Punkt bringen. 

Sarah Scoles Buch „Countdown: The Blinding Future of Nuclear Weapons“ („Die blendende Zukunft der Atomwaffen“) hat es sich zur Aufgabe gemacht, diesem Missstand durch eine Verschiebung des Fokus entgegenzuwirken. Das Buch, das vor einigen Monaten in den USA erschien und auf jahrelanger Recherche sowie auf einer Vielzahl von Interviews basiert, untersucht Systematik und Selbstverständnis der US-Atomstreitkräfte durch den Fokus auf die handelnden Personen. 

Die Autorin, Journalistin und Contribution Editor beim Scientific American, konzentriert sich dabei weniger auf abstrakte Strukturen als vielmehr auf die einzelnen Menschen, die das System der nuklearen Abschreckung in den Vereinigten Staaten am Laufen halten.

Physik und Psychologie

Es geht also einerseits um Physik und die Kettenreaktionen thermonuklearer Detonationen, aber vor allem um Psychologie: um die Verknüpfung der Ideologie der Abschreckung im Großen mit den psychologischen Rechtfertigungsmechanismen dieser Ideologie im Kleinen. Thema ist somit die Selbstwahrnehmung von potenziellen Täter*innen, die (noch) keine solche sind, aber bereit scheinen, es zu werden, um keine zu sein. Willkommen in den Paradoxien der atomaren Abschreckung.

Im Ergebnis entstehen differenzierte Einblicke in einen sehr spezifischen Bereich der nuklearen Abschreckung, der in aller Regel unsichtbar bleibt. Die von der Autorin organisierte Tour durch Bunker und abgeriegelte Forschungsanlagen des amerikanischen Abschreckungssystems beginnt dabei im Los Alamos National Laboratory – dem entlegenen Geburtsort der Bombe selbst. 

Die im Buch geschilderten Besuche wirken dabei fast wie Spaziergänge, wenn nicht im Hintergrund das Gespenst einer Höllentour immer am Horizont sichtbar wäre. Denn das Leben auf diesem Planeten, daran erinnert Scoles gleich zu Anfang, ist schließlich nur „einen Knopfdruck, einige korrekte Codes, eine präsidentielle Laune, einen Moment der Panik, eine Fehlwahrnehmung“ von der Auslöschung entfernt. 

Die Eskalation ist nicht zu stoppen

„Wenn die erste nukleare Bombe detoniert, dann war es das“, stellt einer der Interviewpartner*innen nüchtern fest. Die Eskalation sei dann nicht auszuhalten. Ein anderer bekennt, von Montag bis Mittwoch auf nukleare Abschreckung zu setzen, von Donnerstag bis Samstag von Abrüstung zu träumen – und diese Widersprüche am Sonntag in Alkhohol zu ertränken.

Scoles interviewt Wissenschaftler*innen, Ingenieur*innen und Bürokrat*innen der Abschreckung, lässt aber auch Senator*innen, Fürsprecher*innen und Zweifler*innen zu Wort kommen. Nicht zuletzt zu der kontroversen Frage der laufenden Modernisierung des US-amerikanischen Nukleararsenals. 

Sind die Kosten in Milliardenhöhe zu rechtfertigen? Hat Abschreckung nicht bislang funktioniert? Oder ist es – wie einer der Akteure aus dem Apparat berichtet – ein reines Wunder, dass die Absurditäten der Mutually Assured Destruction, also des „Gleichgewichts des Schreckens“, nicht längst zur letzten, allerletzten, verrückten Katastrophe der Menschheit geführt haben?

Komplexe Persönlichkeiten

Doch es geht Scoles nicht um Agitation. Das gezeichnete Bild ist komplex. Wer Porträts von seelenlosen Apparatschiks erwartet, die in Vernichtungslaboren gewissenlos an der Umsetzung der Banalität des Bösen werkeln, wird eines Besseren belehrt. 

Vorgestellt werden vielmehr Figuren, die in ihrer Freizeit progressive Theaterskripte verfassen und Physiker*innen, die mit ihren Teenagern morgendliche Wanderungen durch die Sierra unternehmen. Die Banalität des Guten: auch ein Antidot zum greifbaren Irrsinn der nuklearen Logik?

In leicht zu lesenden szenischen Episoden zeigt Scoles dabei immer wieder, wie die Menschen des Apparats – ähnlich wie einst Robert Oppenheimer, der „Pionier der Bombe" – damit ringen, ihre Tätigkeit mit moralischen Prinzipien in Einklang zu bringen. Manch ein Akteur oder eine Akteurin scheint dabei fast schon trotzig zu hoffen, dass das individuelle Leiden an den Widersprüchlichkeiten zwischen Idylle und Apokalypse zumindest moralisch einen Unterschied macht. Nur welchen?

Glühende Anhänger*innen der Abschreckung

Wenig überraschend kommen glühende Anhänger*innen der Abschreckung, Alt-Hippies und kritische Geister mit Kindheitsträumen als Astronaut zu ganz unterschiedlichen Rechtfertigungen des Status quo. Das Spektrum reicht von Resignation („Diese Waffen existieren“) bis zum Glauben, durch den auch persönlichen Einsatz Schlimmeres verhindern zu können. 

Bisweilen vertreten die Menschen in den Apparaten gar politische Haltungen zu Nuklearwaffen, die sich kaum von den Slogans derer unterscheiden, die vor den Toren der Anlagen gegen die Waffen demonstrieren. So lautet eine der vielleicht verblüffenden Erkenntnisse, dass auch ein Teil derjenigen, die tagtäglich mit Nuklearwaffen hantieren, physikalische Abläufe berechnen und Testszenarien durchspielen, die Abschaffung der nuklearen Option langfristig als alternativlos erachtet. „Das ist hier überhaupt keine radikale Position“, erklärt einer der Befragten dazu mit Nachdruck.

Die Reaktionen der amerikanischen Medienöffentlichkeit auf Sarah Scoles Blick hinter die Klulissen sind bislang bemerkenswert positiv. In ausführlichen Beiträgen in der „New York Times" und im „Wall Street Journal" wurde dem Buch sowohl von links als auch von rechts Beifall gespendet. 

Wichtiger Zwischenruf

Die Fachzeitschrift „Foreign Affairs" lobte es als ein „wertvolles und nuanciert“ Werk und auch der „Economist" befand: „ausgewogen und gut lesbar“. In Zeiten, in denen manch einem besonders rigorosen Fürsprecher oder einer Fürsprecherin der Pflugscharen-zu-Schwerte-Fraktion schon das Wort „Frieden“ als Provokation erscheint und die nukleare Bedrohung so akut ist wie selten zuvor, ist Sarah Scoles damit ein wichtiger Zwischenruf zur rechten Zeit gelungen.

Sarah Scoles: Countdown: The Blinding Future of Nuclear Weapons, Bold Type Books, 2024, 272 Seiten

Autor*in
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Michael Bröning

ist Politikwissenschaftler und Mitglied der SPD-Grundwertekommission.

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1 Kommentar

Gespeichert von Tom Kaperborg (nicht überprüft) am Sa., 01.06.2024 - 07:55

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Die Menschheit als Ganzes lernt es nie - die Weiterverbereitung von A-Waffen laesst sich hoffentlich verzoegern, dadurch dass sie auf wenige Akteuere beschraenkt bleiben. Es wird aber tendenziell mehr Staaten als A-Waffentraeger geben - das Nationalstaatenkonstrukt und die Herrschaftsattitueden der Menschen an sich begruenden meinen Pessimismus bei diesem Thema. Leider ist man gezwungen sich ebenfalls so zu bewaffnen, wenn man nicht erpressbar sein will, in der EU bei Wegfall des amerik. nuklearen Schutzschirmes. Das Thema Gegengewalt als hoffentlich nie stattfindende Option. Bin mal gespannt auf das Buch.