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Atomwaffen 77 Jahre nach Hiroshima: „Die Situation ist unberechenbar“

Am 6. August 1945 wird die erste Atombombe über Hiroshima abgeworfen, die zweite am 9. August über Nagasaki. 2022 spielt Russland wieder mit der Angst vor einem Atomkrieg. Sind die Bemühungen um eine atomwaffenfreie Welt gescheitert, Johannes Oehler?
von Kai Doering · 4. August 2022
Am 6. August 1945 wurde über Hiroshima (Japan) eine Atombombe abgeworfen.
Am 6. August 1945 wurde über Hiroshima (Japan) eine Atombombe abgeworfen.

Mit dem russischen Überfall auf die Ukraine ist auch die Angst vor einem Atomkrieg zurückgekehrt. Wie sehr wirft dieser Krieg die Bemühungen um eine atomwaffenfreie Welt zurück?

Bei vielen Menschen hat der russischen Überfall auf sein Nachbarland den Reflex ausgelöst „Jetzt brauchen wir wieder ein Gleichgewicht des Schreckens“, ähnlich wie wir es aus der Zeit des Kalten Kriegs kennen. Das zeigt aus meiner Sicht, dass ein Großteil der Bevölkerung in Deutschland die Existenz und die Gefahren, die von Atomwaffen ausgehen, sehr lange verdrängt haben. Der Krieg in der Ukraine hat diese Bedrohung mit aller Macht wieder in den Vordergrund gezerrt. Leider fehlt in der öffentlichen Debatte sowohl ein Konzept, wie mit dieser Situation umgegangen werden sollte, als auch die klare Botschaft, dass eine gegenseitige Bedrohung mit Atomwaffen nicht die Lösung sein kann.

Welche Auswege sehen Sie?

Während des Kalten Krieges bedrohten sich zwei Blöcke mit gegenseitiger Vernichtung und es wurden keine Atomwaffen eingesetzt. Das kann also eine Weile gut gehen. Im Rückblick hat uns in manchen Situationen aber nur Glück vor einer weltweiten Katastrophe bewahrt. Dieser Zustand hat sich geändert. Inzwischen verfügen neun Staaten über Atomwaffen, die unterschiedliche Interessen verfolgen. Das macht die Situation sehr unberechenbar.

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Eins ist aber sicher: Wenn Atomwaffen weiter existieren, werden sie irgendwann eingesetzt. Ein erster Schritt hin zu einer atomwaffenfreien Welt ist deren Ächtung als Waffe, die gegen das humanitäre Völkerrecht verstößt - ein wichtiges Ziel des Atomwaffenverbotsvertrags. Analog zum Verbot von Chemiewaffen oder Antipersonenminen verringert diese normative Abwertung bereits die Einsatzwahrscheinlichkeit einer Waffengattung.

Ein Jahr nach seinem Inkrafttreten hat Ende Juni die erste Staatenkonferenz zum Atomwaffenverbotsvertrag stattgefunden. Wie fällt Ihr Fazit aus?

Die Konferenz war ein Erfolg. Schon alleine, weil viele Staaten daran teilgenommen haben, auch über den Kreis derer hinaus, die den Atomwaffenverbotsvertrag bereits ratifiziert haben. Mit dem Vertrag und der Konferenz haben wir einen Paradigmenwechsel erreicht. Es wurde nicht über die Anzahl von Sprengköpfen diskutiert, sondern über die ganz konkreten humanitären Folgen von Atomwaffen gesprochen. Dabei ist deutlich geworden, dass niemand helfen kann, wenn tatsächlich Atomwaffen eingesetzt werden. Sie sind das Schlimmste, was Menschen Menschen antun können.

Deutschland ist einer der Beobachterstaaten. Botschafter Rüdiger Bohn hat die Wichtigkeit des Atomwaffenverbotsvertrags betont, gleichzeitig aber das Nein der Bundesregierung bekräftigt, dem Vertrag beizutreten. Enttäuscht Sie das?

Nein, denn einen Beitritt Deutschlands erwartet im Moment auch niemand. Aber im Koalitionsvertrag ist der Beobachterstatus ja klar festgeschrieben und es ist ein erster Schritt in die richtige Richtung. Trotzdem war es sehr hart, die kritische Sichtweise der Staaten zu hören, die als Beobachter teilnahmen, neben Deutschland unter anderem auch Schweden und die Niederlande.

Wir haben aber auch auf die Details gehört. Der deutsche Botschafter hat deutlich gemacht, dass die Bundesregierung den Atomwaffenverbotsvertrag für wichtig hält und zum ersten Mal auch signalisiert, dass eine praktische Auseinandersetzung mit bestimmten Artikeln erfolgen wird. Da hat sich die Stimmung im Vergleich zur Vorgängerregierung deutlich geändert. Das ist ein großer Schritt und ich hoffe, es folgen weitere.

Die deutsche Regierung begründet ihr Nein damit, dass sie Mitglied der NATO und damit Teil der nuklearen Abschreckung ist. Nun will sie F-35-Bomber anschaffen, die im Zweifelsfall auch Atomwaffen tragen können. Wird damit das Nein zum Atomwaffenverbotsvertrag nicht endgültig zementiert?

Die nukleare Teilhabe ist sicher ein großes Hindernis, den Atomwaffenverbotsvertrag zu unterzeichnen. Ich sehe im Moment keine Bestrebung das zu ändern. Aber alle Expert*innen in Wien haben klar gemacht: es hängt am politischen Willen. Und wir brauchen mehr öffentliche Debatten zu dem Thema – auch im Bundestag.  Bei ICAN haben wir natürlich darauf gehofft, dass mit dem Zeitpunkt, an dem der „Tornado“ bei der Bundeswehr ausgemustert wird, auch die nukleare Teilhabe beendet wird. So hat es zum Beispiel Griechenland gemacht.

Das ist nun leider nicht so. Allein die Anschaffung der F-35 bedeutet aber nicht, dass sie auch Atombomben tragen werden. Ich hoffe, dass es, wenn es hart auf hart kommen würde, genügend verantwortungsvolle Menschen gibt, die den Einsatz von Atomwaffen verweigern.

Könnte die neue Debatte über den Einsatz von Atomwaffen auch eine Chance sein, ein Verbot zu erreichen?

Das würde mich sehr freuen. Zumindest muss man heute niemandem mehr erklären, dass es weiterhin Atomwaffen gibt und dass ihr Einsatz keine Gewinner kennen würde. Ganz entscheidend ist aus meiner Sicht Bildungsarbeit, um Szenarien zu entwickeln, wie eine globale Sicherheitsarchitektur ohne Atomwaffen aussehen könnte. Da wünsche ich mir auch von der Bundesregierung mehr Kreativität. Der Zeitpunkt dafür könnte kaum besser sein, wenn es in den nächsten Monaten um die Erarbeitung einer nationalen Sicherheitsstrategie und die von Olaf Scholz beschworene Zeitenwende geht. Wir sollten Atomwaffen klar als das benennen, was sie sind: das größte Risiko für die Menschheit und nicht ein Teil der Lösung.

SPD-Chef Lars Klingbeil hat mehr internationale Führung von Deutschland verlangt. Was bedeutet das mit Blick auf Atomwaffen?

Führung darf nicht militärisch verstanden werden, sondern sollte vor allem Multilateralismus, Krisenprävention und Abrüstung bedeuten. Deutschland muss sich ganz deutlich zu ziviler Konfliktlösung bekennen, auch aus der eigenen Vergangenheit heraus. Gerade diese Rolle kann Deutschland die Glaubwürdigkeit vermitteln, die nötig ist, lang andauernde Konflikte zu befrieden. Wenn Führung so verstanden wird, kann sie ein Gewinn für alle werden.

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