Biografie über Rudolf Breitscheid: Porträt eines Eigensinnigen
Es ist ein Buch über einen Eigen-Sinnigen: Rudolf Breitscheid, dessen Geburtstag sich 2024 zum 150. Mal jährte und der vor 80 Jahren im KZ Buchenwald zu Tode kam. Der Journalist Peter Pistorius hat dem Sozialdemokraten ein publizistisches Denkmal gesetzt.
Von Bundesarchiv, Bild 102-13412 / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5481020
Kämpfer für das allgemeine Wahlrecht: Rudolf Breitscheid (r.) mit dem preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun 1932
Für Peter Pistorius ist das Buch eine späte Genugtuung. Seine Dissertation über Rudolf Breitscheid aus dem Jahr 1968 diente als Grundlage. Er legte sie als Historiker der Universität Köln vor. Rechtzeitig zum 150. Geburtstag und 80. Todestags Breitscheids 2024 hat Pistorius sie gründlich überarbeitet und mit beachtlichem Bildmaterial versehen, so dass ein sehr gut lesbares Werk entstanden ist.
Der gebürtiger Österreicher wurde 1969 beim Hessischen Rundfunk Redakteur für Politik und Zeitgeschehen, berichtete aus Rom und Brüssel und war schließlich beim Sender Freies Berlin der Chef-Redakteur des Hörfunks. Peter Pistorius lebt heute in Hohen-Neuendorf in Brandenburg.
Ein Einblick in den kaiserlichen Obrigkeitsstaat
Es ist der Historischen Kommission der SPD Brandenburg (HIKOBRA) zu danken, dass damit endlich das bisher einzige umfassende Lebensbild Rudolf Breitscheids die Öffentlichkeit in Kenntnis setzt. Die brandenburgischen SPD-Historiker*innen richteten ihre Aufmerksamkeit auf den gebürtigen Kölner Breitscheid, weil er auf dem Südwestkirchhof in Stahnsdorf bei Berlin bestattet wurde; seine Grabstätte ist heute Ehrengrab der Stadt Berlin.
Trotz der Doktorarbeit als Grundlage, ist Pistorius‘ Buch flott geschrieben. Die Schilderungen des gründlichen Rechercheurs und sorgfältigen Historikers führen Leserinnen und Lesern vor Augen, welche Politik das Kaiserreich beherrschte, von der sich die meisten Menschen in Deutschland heute kein richtiges Bild machen: Der kaiserliche Obrigkeitsstaat verhöhnte die Demokratie und verweigerte den Frauen und Arbeitern grundlegende Bürgerrechte.
Größte Teile der Bevölkerung hatten kein oder ein sehr gestutztes Wahlrecht, denn in drei Klassen geteilt gestand es den Stimmen aus der Arbeiterklasse und der Steuerzahler mit geringem Einkommen nur ein geringes Gewicht zu. Und den Frauen war die Stimm-Abgabe sowieso verwehrt ebenso wie die organisierte politische Betätigung. In Deutschland, und besonders in Preußen, war ihnen Bildung und Politik weitgehend verschlossen.
Von den Liberalen zur Sozialdemokratie
Der junge Rudolf Breitscheid, promovierter Nationalökonom, bekämpfte dieses System schon im Juso-Alter als Journalist und Politiker bei den Liberalen später dann mit den Sozialdemokraten. Das gegen die Arbeiterschaft gerichtete Drei-Klassen-Wahlrecht war nach seiner unbeugsamen Überzeugung abzuschaffen und den Frauen endlich ihr Stimm-Recht zu geben. Er folgte, als seine Ziele in der liberalen Bewegung nicht durchzusetzen waren, seiner Erkenntnis, dass „außerhalb des Sozialismus demokratische Ideen dauernd und konsequent nicht mehr vertreten werden können“. Daher schloss er sich der Sozialdemokratie an.
Ausführlich schildert Peter Pistorius die Richtungskämpfe während der Revolution von 1918. Rudolf Breitscheid, damals USPD-Politiker, wurde als Volksbeauftragter preußischer Innenminister. Die Weimarer Republik brachte dann endlich die Erfüllung der Forderung nach dem gleichen und allgemeinen Wahlrecht.
Rudolf Breitscheid gewann bald hohes Ansehen als sozialdemokratischer Außenpolitiker. Er trat mit Gustav Stresemann für einen Ausgleich mit den Kriegsgegnern ein und bejahte eine West-Orientierung des Deutschen Reiches. Vor der Politik Russlands warnte er. Den Beitritt Deutschlands zum Völkerbund sah Breitscheid als einen ersten Schritt zu einer europäischen Zoll-Union und zum Zusammenschluss der Vereinigten Staaten von Europa. 1931 wurde er in den SPD-Vorstand gewählt.
Kronzeuge der DDR-Führung
Doch bald war sein Einsatz in der Innenpolitik gefordert. Es galt, die demokratie-feindlichen Nationalsozialisten abzuwehren. Im Reichstag warnte Breitscheid am 24. Februar 1932 vor einer Hitler-Diktatur. Pistorius schildert auch, wie unversöhnlich die Arbeiter-Parteien KPD und SPD die Diskussion um eine Einheits-Front führten, letztlich erfolglos.
Für eine Volkfront suchte Rudolf Breitscheid nach der NS-Machtübernahme im französischen Exil wieder Verbündete – jetzt auch im kommunistischen Lager, was ein Zerwürfnis mit der sozialdemokratischen Exil-Führung in Prag hervorrief – und seine „Beliebtheit“ in der DDR begründete. Die Kommunisten dort ernannten Breitscheid bekanntlich zum „Kronzeugen“ für ihre Einheitspartei SED und das Benennen von Straßen etc. nach ihm gehörte zum angesagten Ritual im zweiten deutschen Staat, während Breitscheid im Westen eher stiefmütterlich geehrt wurde.
Falsches Vertrauen ins französische Vichy-Regime
Außer Acht blieb dabei geflissentlich Breitscheids Ernüchterung, die Peter Pistorius aus einem seiner Briefe aus dem Exil in Frankreich in die Schweiz an seinen Genossen Wilhelm Hoegner den späteren Ministerpräsident Bayerns zitiert: „Ich vermag an die Möglichkeit einer ‚Deutschen Volksfront‘ zu meinem Leidwesen nicht mehr zu glauben, da die Haltung der Kommunisten den Voraussetzungen gemeinsamer Arbeit zuwiderläuft (…), aber ich will unter keinen Umständen im Moskauer Schlepptau segeln.“
1940 floh er vor den Truppen Hitlers in Frankreichs unbesetzten Süden. Sein Vertrauen in das Vichy-Regime, das ihm eine legale Ausreise in Aussicht gestellt hatte, trog jedoch: Breitscheid wurde verhaftet, an die Nazi ausgeliefert und kam schließlich mit seiner Frau Tony, die sich als Frauenrechtlerin einen Namen gemacht hat, in das KZ Buchenwald, wo er bei einem Bombenangriff starb.
Briefwechsel und Tagebücher als Quellen
Biograf Pistorius durfte für sein Buch neben den Briefen an Wilhelm Hoegner auch Tagebücher Rudolf Breitscheids auswerten, die Breitscheids Witwe ihm zur Verfügung stellte. Leider sind diese Aufzeichnungen heute verschollen.
Eingeleitet wird das Buch mit einem bemerkenswerten Interview. Der ehemalige SPD-Vorsitzende und Europapolitiker Martin Schulz, jetzt Vorsitzender der Friedrich-Ebert-Stiftung, diskutiert mit Peter Pistorius und Sabine Hering von der HIKOBRA.
Peter Pistorius: Rudolf Breitscheid 1874 – 1944. Kampf um Wahrheit und Macht, Schüren Verlag 2024, ISBN ISBN 978-3-7410-0290-8, 28 Euro