Geschichte

Adolf Reichwein: Vom stillen Rebellen zum Widerstandskämpfer gegen Hitler

In der Weimarer Republik arbeitet er als Pädagoge. Am Museum für deutsche Volkskunde entwickelt er sich zum strikten Gegner der Nazis. Als Mit-Verschwörer von Stauffenberg wird der Sozialdemokrat Adolf Reichwein zum Tode verurteilt und am 20. Oktober 1944 hingerichtet.

von Lothar Pollähne · 21. Oktober 2024
Das letzte Foto: Adolf Reichwein am 20. Oktober 1944 vor dem sogenannten Volksgerichtshof von Roland Freisler

Das letzte Foto: Adolf Reichwein am 20. Oktober 1944 vor dem sogenannten Volksgerichtshof von Roland Freisler

„Ein ungewöhnlicher Mensch von ungewöhnlichen geistigen und menschlichen Qualitäten. Es ist wohl allen, die mit ihm in Berührung kamen, so empfunden worden. Das Geheimnis der Faszination, die er in einem seltenen Maß ausstrahlte, kann nur daran liegen, dass ihm jede Spur von Selbstgefälligkeit fehlte. Es mag allerdings sein, dass der Reiz des Jünglinghaften, des Frühvollendeten ihn wie ein tragischer Nimbus umgibt.“ Mit diesen Worten beschreibt Susanne Suhr, die Frau des nachmaligen Regierenden Bürgermeisters von West-Berlin, Otto Suhr, den gemeinsamen Freund. Dieses Bild passt zum wohl letzten Foto von Adolf Reichwein, das diesen vor den Schranken des Nazi-Blutrichters Roland Freisler zeigt. Das steht ein Mann, gezeichnet von der voraufgegangenen Folter und dennoch ungebeugt und mit klarem Blick.

Der einzige Überlebende berichtet

Es ist der 20. Oktober 1944. Vor dem sogenannten Volksgerichtshof müssen sich neben Adolf Reichwein Julius Leber, Ewald Löser, Hermann Maaß und Gustav Dahrendorf wegen „Landesverrat, Feindbegünstigung, Hochverrat und Nichtanzeige eines hochverräterischen Unternehmens“ verantworten. Einzig Gustav Dahrendorf wird nicht zum Tode verurteilt und kann nach der Zerschlagung Nazi-Deutschlands Zeugnis ablegen über Reichweins letzten Auftritt.

„Reichwein begann mit ganz leiser Stimme. Er konnte nicht lauter sprechen. Die Haft mit ihren seelischen Erregungen und körperlichen Misshandlungen hatte ihm die Stimmkraft genommen. Für Sekunden nur waren alle Blicke auf ihn gerichtet. Mich packte eine tiefe Sympathie für diesen Menschen. So wie er dastand, war er Symbol alles Menschlichen, von dem selbst in diesem Augenblick die Qual des Leidens abfiel.“ 

Ein Lungendurchschuss beendet sein Draufgängertum

Das abenteuerliche Leben des Adolf Reichwein endet am Abend des selben Tages in der Haftanstalt Plötzensee unter der Hand des Scharfrichters. Geboren im mondänen Badeort Ems am 3. Oktober 1898, wächst Adolf Reichwein in der Beschaulichkeit des hessischen Dörfchens Oberrosbach am Taunus auf. Nach Abschluss der dortigen Volksschule wechselt der wissbegierige Knabe 1909 auf die Augustinerschule im benachbarten Friedberg und schließlich auf die Oberrealschule in Bad Nauheim. Seine lebensprägende Bildung erhält Adolf Reichwein in der Wandervogel-Bewegung. Trotz aller Bodenständigkeit drängt es ihn schon früh in die Fremde. 

Wie viele Wandervogel-Bewegte zieht auch Adolf Reichwein Ende 1916 begeistert in den Krieg und ist fest davon überzeugt, dass das Jahr 1917 den „siegreichen Frieden“ bringen wird. Ihm bringt er Ende des Jahres bei Cambrai einen Lungendurchschuss bei. Reichweins kriegerisches Draufgängertum ist damit jäh beendet. Vom Lazarett aus immatrikuliert er sich an der Universität Frankfurt und erweitert sein Weltbild bei Hugo Sinzheimer, dem Vater des Arbeitsrechts, und bei Franz Oppenheimer, einem führenden Theoretiker der „Sozialen Marktwirtschaft“. 

Nicht mit einem Hakenkreuz in die Luft gehen

1921 wird Adolf Reichwein in Marburg mit einer Arbeit über die geistigen und künstlerischen Einflüsse Chinas auf Europa zum  Dr. phil. promoviert. Eine wissenschaftliche Laufbahn steht ihm offen, aber Reichwein lockt weiterhin das Abenteuer und die theoretisch fundierte praktische Arbeit. Seine Tätigkeit als Referent für Erwachsenenbildung im Preußischen Kultusministerium, die er 1922 aufnimmt, ist daher nur von kurzer Dauer. Eines allerdings nimmt er aus dieser Zeit mit: seine lebenslange Begeisterung für Erwachsenenbildung, die für ihn „Volksbildung“ im eigentlichen Sinne ist. 

Ab 1923 widmet sich Adolf Reichwein der Volkshochschulbewegung in Thüringen. Er wird Leiter der Volkshochschule in Jena, bietet Kurse für Jungarbeiter der Zeiss-Werke an und organisiert Studienreisen, an denen er als gebildeter Abenteurer selbst teilnimmt, zum Beispiel an einem „Hungermarsch“ durch Lappland mit arbeitslosen Jugendlichen. Neben seiner beruflichen Tätigkeit findet Adolf Reichwein Zeit für ausgedehnte Reisen in die USA, in das postrevolutionäre Mexiko und als Matrose nach Japan; er berichtet darüber in Zeitungsbeiträgen und Büchern. Den Gipfel seiner Abenteuerlust erreicht Adolf Reichwein mit einem Kleinflugzeug der Marke „Klemm“, das er für viele seiner Reisen nutzt. Er verkauft es 1933, weil er nicht mit einem Hakenkreuz auf dem Flugzeugrumpf in die Luft gehen will.

Die Wahlerfolge der Nazis machen im Angst

1929 beruft der liberale Preußische Kulturminister Carl Heinrich Becker ihn zu seinem persönlichen Referenten. Gemeinsam bauen sie die pädagogischen Akademien zu Hochschulen aus. 1930 wird Reichwein als Professor für Geschichte und Staatsbürgerkunde an die gerade gegründete „rote“ Pädagogische Akademie in Halle berufen. Erst jetzt tritt Adolf Reichwein, dessen politisches Engagement vorwiegend in der Pädagogik liegt, der SPD bei. Die Wahlerfolge der Nazis und der beginnende Zerfallsprozess der Weimarer Republik ängstigen ihn. Seine Heimat in der Partei findet er in einem Kreis konservativ widerständiger Sozialisten wie Carlo Mierendorff oder Theodor Haubach, die er zum Teil aus seiner hessischen Heimat kennt.

Die Nationalsozialisten entlassen den „nationalen Sozialisten“ Adolf Reichwein gleich nach ihrer Machtübertragung, aber sie drangsalieren ihn nicht, weil er politisch-agitatorisch nicht hervorgetreten ist und weil er als „Volkskundler“ ins Nazi-System zu passen scheint. Seinen „sicheren Ort“ findet Reichwein im Abseits einer einklassigen Volksschule im brandenburgischen Tiefensee. Abseits allen Führer-fixierten Drills praktiziert er jahrgangsübergreifende Reformpädagogik und profiliert sich als früher Medienpädagoge.

Zentrale Figur des Widerstands gegen Hitler

In dieser Funktion wird Adolf Reichwein 1939 als Abteilungsleiter für den Schulfunk an das Staatliche Museum für deutsche Volkskunde berufen. Dort wird aus dem stillen Rebellen Adolf Reichwein der Widerstandskämpfer. Am Rande des Machtzentrums kann er Kontakte zu alten Weggefährten wie Carlo Mierendorff und Theodor Haubach aufnehmen und neue Freundschaften schließen mit Julius Leber und den Grafen Wartenburg und Moltke. Für sie wird der vergleichsweise unbekannte Adolf Reichwein zu einer zentralen Figur des Widerstands, denn wegen seiner ausgeprägten Vortrags- und Reisetätigkeit kann er reichsweit Kontakte knüpfen und pflegen. 

Adolf Reichwein nähert sich dem Kreisauer Kreis an und wächst darüber hinaus, weil er keine Berührungsängste kennt, auch nicht den ehemals verachteten Kommunisten gegenüber. Sie in die Arbeit der eher bürgerlichen Verschwörer einzubinden ist das gemeinsame Ziel von Julius Leber und Adolf Reichwein. Seit April 1944 treffen sie sich in Berlin mit Mitgliedern der „Saefkow-Jacob-Bästlein-Organisation“ — und das wird ihnen zum Verhängnis, denn den Nazis ist es gelungen dort einen Spitzel zu platzieren. Auf dem Weg zu einem weiteren Treffen verhaftet die Gestapo am 4. Juli 1944 Adolf Reichwein und am Tag darauf Julius Leber. Der „Wettlauf mit dem Verhängnis“ — so hat Reichwein seine konspirative Tätigkeit bezeichnet — ist zu Ende.  

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Lothar Pollähne

ist Journalist und stellvertretender Bezirksbürgermeister in Hannover.

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