Kultur

Ausstellung: „Stimmen der Straße“ erzählen von Wohnungslosigkeit

Eine Foto-Ausstellung im Berliner Willy-Brandt-Haus erzählt über das Leben von Menschen, die ihre Wohnung verloren haben. Sie zeigt Momentaufnahmen aus einem Alltag, von dem allein in der Hauptstadt mehr als 46.000 Menschen betroffen sind.

von Lea Hensen · 13. September 2024
Eine Ausstellung von Debora Ruppert zeigt das Leben von Obdachlosen.

Eine Ausstellung von Debora Ruppert zeigt das Leben von Obdachlosen.

Es kann so schnell gehen. Wie bei Lexi. Die 28-Jährige floh von ihrem aggressiven Freund ins Auto, ihre drei Hunde nahm sie mit. Sie übernachtete ein paar Tage auf einem Parkplatz im Wald. Eine Übergangslösung, dachte sich die junge Frau. Doch daraus wurden mehrere Monate, ein ganzer Winter. Draußen frostete es, das Auto schimmelte von innen. Lexi suchte verzweifelt nach einer Notunterkunft. Doch keiner nahm sie auf – wegen der Hunde.

„Die Hunde sind der einzige Halt in meinem Leben“, sagte Lexi am Mittwoch, dem Tag der Wohnungslosen, im Berliner Willy-Brandt-Haus. Ein Familienersatz nach einer schwierigen Kindheit, aber leider für die allermeisten Vermieter*innen ein Problem. Sie wegzugeben stand für Lexi außer Frage. „Man sagt einer Mutter ja auch nicht: Gib dein Kind ab, damit du eine Wohnung bekommst“, sagte sie. Mit der Hilfe eines Freundes fand sie schließlich ein Frauenheim, das auch Haustiere akzeptiert.

Mehr als 46.000 Wohnungslose in Berlin

Lexis Geschichte ist eine von mehreren, die das Willy-Brandt-Haus derzeit ausstellt. Die Fotografin Debora Ruppert hat Obdach- und Wohnungslose vor ihre Kamera geholt. Ihr multimediales Projekt „Stimmen der Straße" lässt Menschen sprechen, die gerade in Großstädten oft unsichtbar sind. Sie haben ihr Leben mit Einwegkameras dokumentiert und geben in Videointerviews Einblicke in ihren Alltag.  

Allein in Berlin würden mehr als 46.000 Menschen ohne feste Wohnung leben, sagte Mirja Linnekugel vom Willy-Brandt-Freundeskreis bei einer Podiumsdiskussion zur Eröffnung der Ausstellung. „Wir haben das Wegsehen trainiert und uns daran gewöhnt, dass da jemand auf der Bank liegt, und erleichtern unser Gewissen mit ein wenig Kleingeld.“ Die Fotografin Debora Ruppert hat bereits im Bundestag ausgestellt. Das Projekt habe sie herausgefordert, sagte sie, weil es deutlich mache, wie zerbrechlich das Leben ist. „Schicksalsschläge, Trennung, eine psychische Erkrankung – all das kann dazu führen, dass ein Mensch von einem Tag auf den anderen sein Zuhause verliert.“ 

Schuldenbremse reformieren

Dass Menschen gerade in einer Stadt wie Berlin sehr schnell in die Wohnungslosigkeit geraten, weiß Cansel Kiziltepe, Berliner Senatorin für Arbeit und Soziales. Die SPD-Politikerin betonte, der Berliner Senat bemühe sich, Wohnungs- und Obdachlosigkeit bis 2030 zu überwinden, „zumindest zu reduzieren“. Doch Investitionen würden eine Reform der Schuldenbremse erfordern. Ein Ansatz seien Housing-First-Projekte, die etwa in Finnland großen Erfolg hatten und Menschen zuallererst und niedrigschwellig einen Wohnraum anbieten, bevor sie andere Probleme angehen müssen. 

Caritasdirektorin Ulrike Kostka kennt viele Wohnungslose, die sich an die Hilfseinrichtungen des Wohlfahrtverbands wenden. Fast immer seien es Frauen, die nach einer Gewalterfahrung die Wohnung verlassen müssen und dadurch auf der Straße landen, sagte sie. Dabei sei Wohnen ein Menschenrecht. „Wir müssen uns intensiver mit dem Thema häuslicher Gewalt beschäftigen.“

Momentaufnahmen aus dem Alltag

Rupperts Ausstellung ist noch bis zum 10. November auf der zweiten Etage der SPD-Parteizentrale zu sehen, immer von Dienstag bis Sonntag, 12 bis 18 Uhr. Fotowände zeigen Bildausschnitte, die die Projekt-Teilnehmenden selbst gewählt haben, Momentaufnahmen aus ihrem Alltag, versehen mit einer Notiz. Die sensible Bildsprache zeigt die Facetten der Armut und Not, aber auch glückliche Momente des Zusammenhalts unter neuen Freundinnen und Freunden. Dabei wird deutlich, wie hauchzart die Linie verlaufen kann vom geregelten Alltag inmitten der Gesellschaft hin zum instabilen Leben auf der Straße oder im Heim.

Eine Fotowand erzählt Roderichs Geschichte. Weil sein Vermieter nach einer Auseinandersetzung fälschlicherweise Mietrückstände gemeldet hatte, verweigerte ihm das Sozialamt die Zahlung seiner Miete. Der 71-Jährige zog vor Gericht, verlor seine Wohnung aber trotzdem. Nach vielen bürokratischen Hürden gelang es ihm, über einen Kontakt eine Bleibe zu finden – gerade rechtzeitig, bevor die Schufa seine Schulden erfassen konnte. Ein glücklicher Zufall also, in einem engen Zeitfenster. Heute unterstützt Roderich wohnungslose Menschen in einem Verein. 

„Viele Wohnungslose scheitern an den Schnittstellen der Ämter“, sagte er. Deswegen brauche es mehr Sozialarbeiter, die sich aktiv engagieren. Und politische Reformen, wie etwa beim Bürgergeld. „Ein Bürgergeld-Empfänger mit Wohnung bekommt seine Miete bezahlt. Ein Bürgergeld-Empfänger ohne Wohnung muss davon seinen tagtäglichen Toilettengang bezahlen sowie Einkäufe im Supermarkt, die im Freien viel schneller verderben", so der 71-Jährige. Das Leben auf der Straße sei schlichtweg teurer. „Ich will die Praxis unserer Regierung in ihre Grenzen verweisen.“

Die Ausstellung „Stimmen der Straße“ ist bis zum 10. November im Willy-Brandt-Haus, Wilhelmstraße 141 zu sehen. Der Eintritt ist frei, ein Personalausweis erforderlich.

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1 Kommentar

Gespeichert von Martin Holzer (nicht überprüft) am Di., 17.09.2024 - 15:28

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"Wir haben das Wegsehen trainiert und uns daran gewöhnt, dass da jemand auf der Bank liegt.."

Ich kann mich noch gut erinnern, als ich nach dem Mauerfall das erste Mal Obdachlose in Westberlin gesehen habe. Trotz aller Freude über die neue Freiheit empfand ich das surreal und erschreckend und irgendwie auch als zivisatorischen Rückschritt. Daran hat sich bis heute nichts verändert. Ich werde mich nie daran gewöhnen.

"...und erleichtern unser Gewissen mit ein wenig Kleingeld.“

Ich habe kein schlechtes Gewissen deswegen, denn ich habe keine Schuld an der Situation und auch keinen Einfluß diese zu ändern. Höchstens aus Mitleid habe ich früher noch etwas gespendet. Das mach ich nun auch nicht mehr. Seit ich als Ungeimpfter während Corona aus der Gesellschaft ausgeschlossen wurde, interessiert mich noch noch die Familie und der engste Freundeskreis. Alle anderen müssen selbst sehen wie sie zurecht kommen.