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Warum Amnesty International friedliche Proteste in Europa unterdrückt sieht

Amnesty International warnt: Die Versammlungsfreiheit in Europa werde immer mehr eingeschränkt. Im neuen Bericht der Menschenrechtsorganisation kommt auch Deutschland nicht gut weg. 

von Lars Haferkamp · 9. Juli 2024
Friedlicher Protest oder Nötigung im Straßenverkehr? Für viel Streit sorgten in Deutschland die Klimaaktivist*innen der Letzten Generation. Sie blockierten immer wieder Straßen, wie hier am 20.10.2023 in Berlin.

Friedlicher Protest oder Nötigung im Straßenverkehr? Für viel Streit sorgten in Deutschland die Klimaaktivist*innen der Letzten Generation. Sie blockierten immer wieder Straßen, wie hier am 20.10.2023 in Berlin.

Der Befund ist erschreckend. „Unsere Recherchen zeichnen das zutiefst beunruhigende Bild eines europaweiten Angriffs auf die Versammlungsfreiheit“, betont Julia Duchrow, Generalsekretärin von Amnesty International (AI) in Deutschland, gegenüber dem „vorwärts“. Sie kritisiert: „Überall werden Menschen, die friedlich protestieren, von den Behörden verunglimpft, behindert oder unrechtmäßig bestraft.“ Ihr Fazit: Das Recht auf friedlichen Protest sei in Europa bedroht.

Das zeigt auch der Bericht von AI über 21 europäische Länder, der am Dienstag in Berlin veröffentlicht wurde. Er kommt zu dem Schluss: Durch Überwachung, Gewalt, Verbote oder Einschüchterung wird in vielen europäischen Ländern die Versammlungsfreiheit eingeschränkt. Darüber hinaus würden abweichende Meinungen unterdrückt und ein protestfeindliches Umfeld geschaffen.

Verleumdung von Demonstrant*innen

In zahlreichen europäischen Staaten sieht AI das Recht, sich friedlich zu versammeln durch Regierungen eingeschränkt. Diese griffen zu immer repressiveren Mitteln, so der Bericht. Friedliche Demonstrant*innen würden „stigmatisiert, kriminalisiert und angegriffen“. So sieht AI „eine verleumderische Rhetorik" der Behörden in allen 21 untersuchten Ländern. Demonstrant*innen würden als Terrorist*innen, Kriminelle oder Extremist*innen verunglimpft. Dies sei dann eine Rechtfertigung für die Einführung immer restriktiverer Gesetze.

Gegenüber dem „vorwärts“ stellt AI-Generalsekretärin Duchrow deshalb eine konkrete Forderung an die Bundesregierung: Diese müsse „alle stigmatisierenden und pauschal kriminalisierenden Aussagen unterlassen, die Stereotype gegenüber Protestierenden verstärken und friedliche Demonstrant*innen in einer Weise darstellen, die Feindseligkeit schüren und Strafmaßnahmen gegen sie rechtfertigen können

Ein Muster in ganz Europa

Der AI-Bericht beschreibt ein Muster, das in ganz Europa sichtbar sei. Es bestehe aus repressiven Gesetzen, unverhältnismäßiger Gewaltanwendung, willkürlichen Festnahmen und strafrechtlichen Verfolgungen sowie ungerechtfertigten oder diskriminierenden Einschränkungen. Die Recherche von Amnesty zeigt zudem in mindestens dreizehn der 21 untersuchten Länder, darunter auch Deutschland, Fälle von Straflosigkeit oder mangelnder Rechenschaftspflicht der Polizei.

AI nimmt in seinem Bericht kein Ranking der untersuchten Länder vor. Julia Duchrow beschreibt aber gegenüber dem „vorwärts“ Tendenzen: „In der Türkei und in Ungarn wird besonders vehement gegen LGBTI- und Frauenrechtsproteste vorgegangen, während in Deutschland und Italien vor allem Klimaakivist*innen ins Visier staatlicher Behörden geraten sind.

Kriminalisierung von Klimaaktivist*innen

So kritisiert der Bericht konkret, dass sich Klimaaktivist*innen in Deutschland wegen des Vorwurfs der Bildung einer kriminellen Vereinigung nach Paragraf 129 StGB vor Gericht verantworten müssen. Das stelle einen Angriff auf die gesamte Klimabewegung dar und sei eine neue Eskalationsstufe der Kriminalisierung von politischem Protest. Kritisiert werden auch deutsche Präventivmaßnahmen, die es ermöglichen, Personen von bestimmten Orten oder Aktivitäten auszuschließen – und sie in einigen Fällen sogar in Haft zu nehmen –, um sie an Aktionen des zivilen Ungehorsams zu hindern.

AI-Generalsekretärin Duchrow warnt davor, in den Landespolizei- und Versammlungsgesetzen die polizeilichen Eingriffs- und Kontrollbefugnisse weiter auszuweiten. „Die Befugnis zur präventiven Ingewahrsamnahme muss erheblich eingeschränkt werden“, fordert sie. Legitimer politischer Protest dürfe nicht durch den Vorwurf der Bildung einer kriminellen Vereinigung verunglimpft und verfolgt werden. „Der Paragraf 129 StGB ist entsprechend zu reformieren“, so Duchrow. 

AI will flächendeckende Kennzeichnungspflicht für Polizeibeamt*innen

Von der Bundesregierung wünscht sich die AI-Generalsekretärin bundesweit unabhängige Untersuchungsmechanismen zur Aufarbeitung von übermäßiger Polizeigewalt. Die bereits existierenden Polizeibeauftragten müssten mit mehr Ressourcen ausgestattet werden. „Es braucht außerdem eine flächendeckende Kennzeichnungspflicht für Polizeibeamt*innen“, betont Julia Duchrow.

Die Versammlungsfreiheit sei ein wichtiges Minderheitenrecht. „Protest darf und soll stören“, unterstreicht die AI-Generalsekretärin. Staaten hätten die Pflicht, das zu ermöglichen. Dafür hätten Menschen in der Geschichte gekämpft, erinnert sie gegenüber dem „vorwärts“. Ihr Fazit: „Heute müssen wir dieses Grundrecht verteidigen.“

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2 Kommentare

Gespeichert von Armin Christ (nicht überprüft) am Do., 11.07.2024 - 08:23

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Die Vorwürfe von AI werfen natürlich kein gutes Licht auf den Zustand unserer Republik, aber statt sie mit lauter Konjunktivformulierungen, wie es Lars Haferkamp macht, zu relativieren sollte es in unserer Demokratie möglich sein sich diesen Vorwürfen zu stellen und da wo sie zutreffen auch zu beseitigen.
Alles abstreiten hilft nur den Falschen. Mit Kritik muss man auch konstruktiv umgehen können.

Die von Ihnen kritisierten Konjunktivformulierungen sind keine Relativierungen, wie Sie es unterstellen. Es handelt sich stattdessen um die sogenannte indirekte Rede, mit der nicht wörtlich zitierte Äußerungen wiedergegeben werden. Wäre der Satz im Indikativ, wäre er entweder ein direktes Zitat oder die Meinung des Autors. Die letztere hat aber in einem Bericht nichts zu suchen. Wir trennen streng zwischen Bericht und Kommentar. Die meisten unserer Leser*innen wissen das auch zu wertschätzen. Die Redaktion