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Letzte Generation: Schadet die Protestform der Demokratie?

Die Gruppe „Letzte Generation“ demonstriert zurzeit an vielen Stellen Berlin. Nina Scheer, klimaschutz- und energiepolitischen Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion, kann ihre Anliegen verstehen – übt jedoch auch scharfe Kritik.
von Sebastian Thomas · 28. April 2023
Woher kommt die Gewissheit, dass sogenannte Gesellschaftsräte zu einem Plus an Klimaschutz führen, fragt SPD-Politikerin Nina Scheer im Interview.
Woher kommt die Gewissheit, dass sogenannte Gesellschaftsräte zu einem Plus an Klimaschutz führen, fragt SPD-Politikerin Nina Scheer im Interview.

Wie bewerten Sie die Protestform der „Letzten Generation“?

Wenn Proteste auf das Erlangen von Aufmerksamkeit gerichtet sind, ist dies für sich genommen das Wesen von Protesten und Meinungskundgaben. Wenn sich die Form der Proteste allerdings gegen die Lebensabläufe der Mitmenschen richtet, Zwänge vermittelt oder gar mit Gefährdungen verbunden ist, verändert der Protest sein Charakter der Meinungskundgabe.

Als Schädigungs- oder Erzwingsungsinstrument geraten Protestformen dann in Konflikt mit unseren demokratischen Entscheidungsprozessen. Bei einer Überschreitung eben dieser Schwelle halte ich entsprechende Proteste – je nach Ausgestaltung und Einzelfall – für rechtsstaatlich nicht mehr legitimiert. Protestformen, die sich gegen den Lebensalltag der Mitmenschen richten, erschweren dann möglicherweise die gesellschaftliche Bündelung von progressiver Klimaschutzpolitik.

Mehr Klimaschutz ist doch ein hehres Ziel. Derzeit sehen wir uns in der Welt mit verschiedenen Naturkatastrophen konfrontiert – ebenso in Deutschland, siehe die Überschwemmung im Ahrtal. Ist die Verzweiflung gerade junger Menschen nicht doch berechtigt und verständlich?

Ja, Naturkatastrophen und zunehmende Extremwetterereignisse, wie Dürren und Hitzewellen, zeigen die Dringlichkeit des Klimaschutzes auf. Da gibt es nichts zu relativieren oder zu beschönigen. Deswegen muss alles getan werden, klimaschädliches Handeln einzugrenzen. Ziel ist es, möglichst schnell unabhängig von fossilen Ressourcen zu werden.

Das ermöglichen die Erneuerbaren Energien. Die Ampel-Koalition hat bereits viele Erleichterungen geschaffen, wie etwa die gesetzliche Verankerung des „überrangenden öffentlichen Interesses“, zugunsten Erneuerbarer Energien und arbeitet fortwährend an weiteren Maßnahmen. Es muss dabei in der Ausgestaltung um die Chancen des Umstiegs auf Erneuerbare Energien gehen: Chance auf Arbeit mit Zukunft, Vermeidung von verschmutzter Luft, Vermeidung von Klimafolgewirkungen und auch Vermeidung von Verknappung, Konflikten und Kriegen um fossile Ressourcen - durch Ermöglichung bezahlbarer und ausreichend verfügbarer, da Erneuerbarer Energie.

Die Abhängigkeit von fossilen Ressourcen ist eine unkalkulierbare Kostenfalle und trifft die ökonomisch Schwächsten am ersten und härtesten. Deswegen muss der Staat eingreifen: Sowohl zur akuten Abfederung preislichen Überforderungen als auch beim beschleunigten Umstieg auf Erneuerbare Energien. Die Energiewende ist beim Klimaschutz der zentrale Wirkmechanismus: Je schneller uns der Umstieg auf Erneuerbare Energien gelingt, desto mehr klimaschützende CO2-Minderung wird uns gelingen.

In welchen Sektoren müssen Ihrer Meinung nach ebenso CO2 eingespart werden?

Dies betrifft dann auch den Wärme- und den Verkehrssektor sowie etwa auch Landwirtschaft: Auch hier entstehen Emissionen durch Einsatz fossiler Energien - neben den weiteren CO2-mindernden Faktoren, die etwa durch weniger Fleischkonsum und zu reduzierende Lebensmittelverschwendung zu erreichen sind. Gerade deswegen muss kontinuierlich auf allen Ebenen an Maßnahmen zur Optimierung von Klimaschutz gearbeitet werden.

Dass wir in Deutschland in knapp 30 Jahren geschafft haben, trotz auf dieser Strecke zu beklagender massiver Rückschritte und Hemmnisse, heute auf bereits 50 Prozent Strom aus Erneuerbaren Energien zu blicken, ist ein wertvoller sozialdemokratischer Erfolg. Von dem unter Rot-Grün im Jahr 2000 verabschiedeten Erneuerbare-Energien-Gesetz, dessen Architekt, Hermann Scheer, ein Sozialdemokrat war, ging eine internationale Ausstrahlungswirkung aus, die den weltweiten Hochlauf Erneuerbarer Energien maßgeblich beeinflusste.

Leider gab es in den Jahren danach in Europa und Deutschland auch Einflüsse zulasten der Energiewende - etwa mengenbegrenzende Maßnahmen, wie die durch die CSU erwirkte 10H-Regelung in Bayern. Mit ihr wurde der Windenergieausbau in Bayern faktisch ausgebremst. Aber auch die bundesweit eingeführten Ausschreibungen zum Ausbau Erneuerbarer Energien wirken insbesondere bei der Windenergie an Land bis heute als mengenbegrenzendes Instrument nach.

Zudem haben sich Genehmigungshemmnisse angehäuft. Diese zu beseitigen war bereits in den vergangenen Monaten und ist weiterhin unsere Aufgabe. In einer Parteiendemokratie erfolgt dies über die Parteien, Parlamente und unter Beteiligung zivilgesellschaftlicher Organisationen, wie Vereine und Verbände, die etwa auch im Rahmen von Gesetzgebungsprozessen Gehör finden. Es geht somit bei der Bewertung der Proteste nicht um das Anliegen, Beschleunigungsfaktoren für Klimaschutz zu finden, sondern um den von den Protestierenden gewählten Weg. Hier darf es nicht zu einer Negierung unserer demokratischen Entscheidungsstrukturen kommen.

SPD-Chef Lars Klingbeil empfindet die Gruppe „Letzte Generation“ als elitär, da sie nicht für politische Mehrheiten sorgt und wirbt, sondern stattdessen sagt: „Das ist hier die Wahrheit, und das setzen wir durch.“ Hat er recht?

Unsere Demokratie kennzeichnet das gemeinschaftliche und abgewogene sowie werteorientierte Ringen um stets zu optimierende Lösungen. In einer Parteiendemokratie brauchen wir hierfür insbesondere die Mitwirkung in den Parteien. Woher wird etwa die Gewissheit genommen, dass sogenannte Gesellschaftsräte zu einem Plus an Klimaschutz führen?

Eben hier zeigt sich die Notwendigkeit demokratischer Prozesse. Wer diese „überspringen“ möchte, ersetzt das demokratische Prinzip der verfassungsbasierten und damit auch wertegebundenen Mehrheitsfindung durch den eigenen Willen, womit eine Überhöhung der eigenen Position einher geht. Ein solches Modell kann eine Gesellschaft die Demokratie kosten sowie im Klimaschutz wertvolle Zeit und ist deswegen entschieden abzulehnen. So verstehe ich auch Lars Klingbeil.

Das Interview wurde schriftlich geführt.

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