Vor der Stichwahl: Entscheiden die Jungen die Präsidentschaftswahl in Polen?
Rafał Trzaskowski oder Karol Nawrocki: Darum geht es in der entscheidenden Runde der polnischen Präsidentschaftswahl am 1. Juni. Zum Zünglein an der Waage könnten die jungen Wähler*innen werden, die sich im ersten Wahlgang für ganz andere Kandidaten entschieden hatten.
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Wer wird der nächste Präsident Polens? Wahlplakate von Rafal Trzaskowski und Karol Nawrocki in Wroclaw
Am 1. Juni entscheidet sich, wer nächster Präsident Polens wird: der Kandidat der liberalen „Bürgerplattform“, Warschaus Bürgermeister Rafał Trzaskowski, oder der von der nationalkonservativen PiS unterstützten Karol Nawrocki. Am Rande einer Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin konnte der „vorwärts“ mit dem Geschäftsführer des Meinungsforschungsinstituts IBRIS, Marcin Duma, und Michał Szułdrzyński, Chefredakteur der wichtigsten polnischen Tageszeitung „Rzeczpospolita“, über die Wahl sprechen – und was ein Präsident Trzaskowski bzw. Nawrocki für Deutschland bedeuten würde.
In der ersten Runde der polnischen Präsidentshaftswahl lag der Kandidat der liberalen „Bürgerplattform“ Rafał Trzaskowski knapp vor dem von der nationalkonservativen PiS unterstützten Karol Nawrocki. Hat Sie dieser Wahlausgang überrascht?
Marcin Duma: Nicht, was die ersten beiden Kandidaten angeht, die nun in der Stichwahl am 1. Juni gegeneinander antreten. Überrascht hat mich das starke Abschneiden der extrem rechten Kandidaten, insbesondere von Sławomir Mentzen auf Platz drei und Grzegorz Braun auf Platz vier, die beide rechtsextreme Positionen vertreten. Dass sie zusammen auf rund 20 Prozent der Stimmen gekommen sind, war sehr überraschend und ist auch von kaum jemandem vorhergesagt worden. Für Polen ist das etwas komplett Neues.
Michał Szułdrzyński: Neu ist auch, dass auf die beiden erstplatzierten Kandidaten gerade einmal 60 Prozent der Stimmen entfallen sind. Früher lag diese Zahl deutlich höher. Das zeigt, dass sich ein großer Teil der Menschen in Polen nicht von den beiden führenden Parteien – der regierenden Bürgerplattform und der oppositionellen PiS – vertreten fühlt. Hinzu kommt eine Spaltung der Generationen: Während etwa 90 Prozent der Wähler über 75 für Trzaskowski oder für Nawrocki gestimmt haben, lag bei den Jungen der drittplatzierte Mentzen vorn, gefolgt von Adrian Zandberg, der eine Art polnischer Bernie Sanders ist. Dieses Rennen findet stark im Hintergrund statt. Für zukünftige Wahlen halte ich es aber für sehr entscheidend.
Wie erklären Sie sich diesen deutlichen Unterschied im Wahlverhalten?
Szułdrzyński: Trzaskowski und Nawrocki haben sich nicht für die Fragen und Nöte der Jungen interessiert. Mentzen und Zandberg dagegen haben sich ihnen direkt zugewandt. Beide stellen dieselben Fragen, auch wenn sich ihre Antworten fundamental unterscheiden. Bei Mentzen sind sie rechtsextrem-libertär, bei Zandberg sozialdemokratisch-antikapitalistisch. Damit sprechen sie die jungen Menschen in Polen offensichtlich an.
Marcin
Duma
Die Hauptaufgabe für Rafał Trzaskowski und Karol Nawrocki ist, die jungen Wähler davon zu überzeugen, dass sie es wert sind, ihre Stimme zu bekommen.
Könnten die jungen Wähler*innen am 1. Juni die Präsidentschaftswahl entscheiden? Ihre Kandidaten sind ja nun aus dem Rennen.
Duma: Das dürfte die entscheidende Frage für die Stichwahl sein. Die Hauptaufgabe für Rafał Trzaskowski und Karol Nawrocki ist, die jungen Wähler davon zu überzeugen, dass sie es wert sind, ihre Stimme zu bekommen. Die Zahlen zeigen, dass es unter den jungen Menschen in Polen eine hohe Wahlbeteiligung gegeben hat. Ein Hauptantrieb, zur Wahl zu gehen, ist für sie Veränderung. Interessant wird sein, wem von den beiden verbliebenen Kandidaten sie diese Veränderung zutrauen – und ob überhaupt. Ich bin mir sehr sicher, dass viele der Jungen ihnen noch gar nicht wissen, wen sie am Sonntag wählen werden, sondern dass sie sich erst kurz vorher entscheiden, bei wem sie ihr Kreuz machen. Am Ende wird das eine sehr rationale Entscheidung sein.
Szułdrzyński: Ich kann mir gut vorstellen, das ein Großteil der jungen Wähler zuhause bleibt, wenn die Bürerplattform und die PiS allein ihre alten Slogans bemühen. Wenn die Bürgerplattform allein darauf setzt zu sagen, dass bei dieser Wahl die Demokratie und die liberalen Werte in Polen verteidigt werden müssen und die PiS darauf abhebt, Polens Souveränität und Unabhängigkeit zu bewahren, werden sich die jungen Menschen nicht ernst genommen fühlen. Ihre Probleme sind ganz andere: die hohen Preise vor allem, für Lebensmittel wie für das Wohnen. Trzaskowski und Nawrocki müssen eine Sprache der Zukunft sprechen. Mit der Sprache der Vergangenheit werden sie die jungen Menschen in Polen nicht überzeugen.
Duma: Wenn man ehrlich ist, waren die Kampagnen aller Kandidaten eher langweilig und alles andere als emotional. Es wurde kaum um Themen gerungen. Stattdessen gab es einige persönliche Angriffe. Über die wesentlichen Fragen wurde aber nicht gesprochen. Das haben insbesondere die jungen Wähler gemerkt. Eine Rolle für den Erfolg Mentzens dürfte auch gespielt haben, dass er seine Kampagne bereits deutlich vor allen anderen Kandidaten begonnen hat – im August vergangenen Jahres. Er hatte sich zum Ziel gesetzt, jede Region Polens mindestens einmal zu besuchen, um mit den Menschen vor Ort ins direkte Gespräch zu kommen. Das hat er geschafft. Er war ein Kandidat zum Anfassen.
Szułdrzyński: Richtig. Deshalb wird die zweite Runde der Präsidentschaftswahl komplett anders sein als die erste. Während am 18. Mai ein ganzes Spektrum an Kandidaten und Meinungen zur Wahl stand, geht es jetzt um die Wahl zwischen zwei konkurrierenden Vorstellungen, wie Polen in der Zukunft aussehen soll – konservativ-nationalistisch ausgerichtet oder liberal-pro-europäisch. Das ist das, worum es am 1. Juni geht. Entscheidend wird sein, die 40 Prozent, die in der ersten Runde für einen anderen Kandidaten gestimmt haben, für eine der beiden Visionen von Polen zu überzeugen. Das sehen wir auch an einer veränderten Kampagne der beiden verbliebenen Kandidaten Trzaskowski und Nawrocki. Beiden müssen jetzt raus aus ihrer Blase.
Setzt sich die Blockadehaltung des bisherigen Präsidenten Duda gegenüber der Regierung fort, wenn PiS-Kandidat Nawrocki zu seinem Nachfolger gewählt wird?
Duma: Dass Präsident Duda im großen Stil Gesetze der Regierung aufgehalten hat, ist ein politisches Narrativ der Liberalen, die damit argumentiert haben, dass sie gerne deutlich mehr umsetzen würden, aber vom Präsidenten ausgebremst werden. In Wirklichkeit hat Präsident Duda aber nur einige wenige Gesetze der Tusk-Regierung nicht unterschrieben. Die allerdings hatten große Symbolwirkung, etwa wenn es um die Unabhängigkeit der Gerichte geht.
Wie werden die beiden Kandidaten ihr Amt als Präsident verstehen?
Duma: Wenn Nawrocki Präsident wird, wird er alle Gesetze unterzeichnen, die eher eine technische Funktion haben. Der Staat wird also funktionieren. Es sind aber schon jetzt die Bereiche klar, in denen sich nichts tun würde – in Fragen der sexuellen Selbstbestimmung zum Beispiel oder bei der Rechtsstaatlichkeit. Nicht zu unterschätzen wäre vor allem die symbolische Wirkung einer Wahl Nawrockis. Politische Beamte und Richter, die eigentlich zu Neutralität verpflichtet sind, könnten sich ermuntert fühlen, politisch dezidierter aufzutreten. Der Kampf um die Wiedererrichtung des Rechtsstaats dürfte dann für die kommenden fünf Jahre verloren sein. Gleiches gilt für Dinge wie das Recht auf Abtreibung oder gleichgeschlechtliche Partnerschaften.
Und wenn Trzaskowski gewinnt?
Szułdrzyński: Dann wäre die Lage für die Vorhaben der Regierung eine ganz andere. Ich möchte allerdings daran erinnern, dass er bereits bei der Präsidentschaftswahl 2020 angetreten ist. Damals unterlag er in der Stichwahl dem aktuellen Präsidenten Andrzej Duda. Allerdings ist es Trzaskowski gemessen an den Zahlen des ersten Wahlgangs nicht gelungen, seine Wählerbasis in den vergangenen fünf Jahren zu vergrößern – trotz einer millionenschweren Kampagne und obwohl ihn Ministerpräsident Tusk ihn stark unterstützt hat. Für mich zeigt das, dass viele derjenigen, die bei der Parlamentswahl für Donald Tusk und die Bürgerplattform gestimmt haben, enttäuscht sind. Dass Dinge wie die Änderung des Abtreibungsrechts nicht durgesetzt wurden, lag übrigens nicht am Veto des Präsidenten, sondern daran, dass sich die Regierungskoalition selbst nicht einig gewesen ist. Wenn Nawrocki Präsident würde, würde sich die Lage sicher verschärfen.
Inwiefern?
Szułdrzyński: Würde Nawrocki Präsident, würde er gegen alle Gesetze der Regierung sein Veto einlegen. Davon bin ich fest überzeugt. Nawrocki würde sich durch das Votum der Polen bestärkt fühlen und sich als seine Art Gegenspieler der Regierung sehen. Es ist ein Paradox im politischen System Polens, dass der direkt gewählte Präsident zwar ein sehr starkes Mandat hat, aber nur sehr wenig Macht. Sie besteht nur darin, Gesetze aufzhalten. Er kann aber keine eigenen Initiativen starten. Wenn Nawrocki gewinnt, wird er sein Veto-Recht nutzen, um seine Macht zu demonstrieren. Mit ihm als Präsident würde das Regieren für Donald Tusk deutlich schwieriger.
Michał
Szułdrzyński
Bei einem Präsidenten Nawrocki müsste sich Deutschland sicher auf schärfere Töne aus Warschau einstellen.
Was könnten Deutschland und die EU von einem Präsidenten Nawrocki bzw. Trzaskowski erwarten?
Szułdrzyński: Bei einem Präsidenten Nawrocki müsste sich Deutschland sicher auf schärfere Töne aus Warschau einstellen. Das klang während des Wahlkampf schon durch. Der derzeitige Präsident Duda ist viel moderater im Auftreten. Außerdem unterrichtet seine Frau Deutsch an einer weiterführenden Schule. Hier gibt es also ein Verständnis und ein Interesse am westlichen Nachbarn. Nawrocki hat einen ganz anderen Hintergrund und Werdegang. Er war Direktor des Museums des Zweiten Weltkriegs in Danzig und Leiter des Instituts für Nationales Gedenken. Nawrocki ist fest davon überzeugt, dass Polen ein Opfer der zwei Großmächte Deutschland und der Sowjetunion war. Das bestimmt sein Denken bis heute. Was das polnisch-deutsche Verhältnis angeht, würde er vermutlich eher spalten als zusammenführen. Bei Trzaskowski liegen die Dinge anders. Er ist deutlich moderater, aber an Deutschland nicht sonderlich interessiert. Er ist eher begeistert von der Kultur Frankreichs und Italiens. Eine Zusammenarbeit wäre sicher eher technisch, dürfte aber gut funktionieren.
Duma: Ein Präsident Trzaskowski wäre sicher keine Herausforderung für die polnisch-deutschen Beziehungen. Ich denke, er würde sich eher aufs Repräsentieren beschränken. Hoffnungen auf eine gute Zusammenarbeit zwischen Polen und Deutschland habe ich eher auf der Regierungsebene, da Donald Tusk und Friedrich Merz dieselbe Parteienfamilie vertreten. Das bedeutet nicht, dass Polen ein bequemerer Partner wird. Donald Tusk ist – wie Polen insgesamt – deutlich selbstbewusster geworden und fordert mehr und mehr eine starke Position Polens ein. Dafür spielt es auch keine so große Rolle, wer polnischer Präsident ist.
Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.