International

Tusk regiert in Polen: Zeitenwende für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit

Mit der Wahl von Donald Tusk zum Ministerpräsidenten von Polen enden acht Jahre Regierung der national-konservativen PiS-Regierung. Es ist ein Aufbruch in Sachen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Und auch für das Verhältnis zu Deutschland.

von Max Brändle · 13. Dezember 2023
Donald Tusk und Andrzej Duda

Neustart in Polen: Ministerpräsident Donald Tusk (rechts) bei der Vereidigung seines Kabinetts durch Präsident Andrzej Duda.

Bei den Wahlen am 15. Oktober 2023 war die PiS von Jarosław Kaczyński mit 35,4 Prozent erneut stärkste Kraft geworden. Die Partei fand jedoch keinen Koalitionspartner im Sejm, dem polnischen Parlament. 

Stattdessen hat das gesammelte Lager der Oppositionsparteien eine Koalition gegen die PiS gebildet und die acht Jahre währende Herrschaft der Rechtskonservativen beendet. Und damit auch die Demontage der Demokratie in Polen, die Einschränkung von Frauenrechten und den Clinch mit der Europäischen Union.

Zuletzt hatte Staatspräsident Andrzej Duda, der ebenfalls aus dem PiS-Lager stammt, der bisherigen Regierung eine letzte Ehrenrunde verschafft, indem er zunächst dem bisherigen Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki den aussichtslosen Auftrag zur Regierungsbildung erteilte. Diese Verzögerung hatte international für ungläubiges Staunen gesorgt, doch nach der gesetzlichen Frist von zwei Wochen scheiterte Morawiecki mit seinem Kabinett wie von allen erwartet am 11. Dezember im Parlament. 

Friedlicher Machtwechsel

Vielleicht waren diese Verzögerung und das Scheitern im Parlament nötig, um die Wahlniederlage der PiS deutlich zu markieren und den friedlichen Machtwechsel nach Wahlen zu gewährleisten. In den regierungsnahen öffentlich-rechtlichen Medien war bislang weiterhin davon die Rede gewesen, die PiS habe die Wahl als stärkste Partei gewonnen.

 Nun sind alle Zweifel und Verzögerungen überwunden: Am Mittwochmorgen hat die Vereidigung des neuen Premierministers Donald Tusk durch seinen präsidialen Gegenspieler Andrzej Duda stattgefunden. Beim Europäischen Rat am 14. und 15. Dezember 2023 wird Tusk ein neues, pro-europäisches Polen vertreten. 

Die Koalition hinter der neuen Regierung ist kein einfaches Bündnis aus vier Fraktionen. Stärkster Partner darin ist eindeutig Tusks Bürgerplattform (30,7 Prozent), ein Mitglied der EVP-Parteienfamilie mit liberalem Erbe aus der Solidarnosc-Bewegung. Die Bürgerplattform stellte bereits vor der PiS-Regierungszeit (2015-2023) die Regierung, in der Donald Tusk Ministerpräsident war (2009-2014), bevor er als EU-Ratspräsident nach Brüssel wechselte und dort 2019 den Vorsitz der EVP übernahm. Er tritt sein Amt als erfahrener Ministerpräsident, überzeugter Europäer und gut vernetzter Konservativer an. 

Taktisches Wahlverhalten

Das Parteienbündnis Dritter Weg war mit 14,4 Prozent überraschend stark aus den Parlamentswahlen hervorgegangen. Offenbar hatten ihm viele Wähler*innen auch aus taktischen Gründen ihre Stimme gegeben, um ihm über die Acht-Prozent-Hürde zu verhelfen und so überhaupt einen Regierungswechsel zu ermöglichen.

Im neuen Sejm hat sich das Wahlbündnis aber wieder in zwei Fraktionen aufgeteilt: in die Partei um den neu gewählten Parlamentspräsidenten Szymon Hołownia (33 Sitze), ein gewiefter Fernseh-Moderator, der bei den Präsidentschaftswahlen 2020 erstmals politisch in Erscheinung getreten ist. Seine Partei Polska 2050 hat vor allem konservativen Wählern, die vom traditionellen Parteienangebot frustriert waren, eine Option geboten. 

Hołownia nutzt sein Amt als Parlamentspräsident geschickt, hat aus den hitzigen Parlamentsdebatten der vergangenen Tage einen Quoten-Schlager mit hohen Klickzahlen auf Online-Plattformen gemacht und schielt vermutlich bereits auf die Präsidentschaftswahlen 2025, mit denen die bis dahin andauernde Kohabitation mit der PiS beendet werden könnte. 

Flexibler Koalitionspartner

Fast gleichstark (32 Sitze) ist der andere Teil des Dritten Weges, die altehrwürdige, konservative Bauernpartei. Diese hat sich in der Vergangenheit als sehr flexibler Koalitionspartner erwiesen, war sowohl mit Tusk (2007-2015) als auch mit der PiS (2005-2007) und zuvor mit der sozialdemokratischen SLD (S2001-2003) in einer Koalition. Allen Avancen der PiS hat die Bauernpartei nun aber widerstanden und ist ein verlässlicher Teil des Anti-PiS-Bündnisses geworden. 

Schließlich sind die Sozialdemokrat*innen der Nowa Lewica Teil der Regierungskoalition. Mit nur 8,6 Prozent der Stimmen fiel ihr Ergebnis schwächer aus als erhofft, sie verlor einige Sitze. Trotz dieses Wermutstropfens kann die Strategie des Parteivorsitzenden Włodzimierz Czarzasty als Erfolg gelten: Nachdem die Partei 2015 aus dem Parlament geflogen war, übernahm er die Führung und brachte sie bei den Wahlen 2019 zurück. 

Die Vereinigung mit der Bewegung Wiosna von Robert Biedron, seitdem Co-Vorsitzender der Nowa Lewica, brachte neue Energie und Ideen ein, sodass die Partei nun Teil der neuen Regierung wird. Der Nowa Lewica haben die taktischen Wähler des Dritten Weges besonders viele Stimmen gekostet, doch sie bleibt ein unverzichtbarer Partner zur Ablösung des PiS. 

Gemeinsame Mission

Die Wiederherstellung der Demokratie, der Gewaltenteilung und der Unabhängigkeit des Justizsystems ist die gemeinsame Mission der neuen Koalitionspartner. An dieser Mammut-Aufgabe, angesichts der ramponierten demokratischen Verfasstheit, die von der PiS hinterlassen wird, muss sich Donald Tusks Regierung beweisen. Schwierig wird diese Herausforderung vor allem dadurch, dass sie nicht allein durch gesetzgeberisches Handeln, sondern durch die Neubesetzung wichtiger Posten im Justizsystem geleistet werden muss. 

Dies juristisch einwandfrei zu meistern, wird die Aufgabe des neuen Justizministers Adam Bodnar (Bürgerplattform), der als Verfassungsrechtler Kompetenz und als Ombudsmann während der PiS-Regierungszeit viel politische Erfahrung mitbringt. Man kann diese innenpolitische Aufgabe auch als Wiederherstellung der vollen Kraft der polnischen Verfassung verstehen. 

Doch auch auf europäischer Ebene sind die Defizite der polnischen Rechtsstaatlichkeit zentral, Milliarden an EU-Mitteln, insbesondere aus dem Corona-Wiederaufbau-Fonds, sind blockiert. Diese Mittel loszueisen, wird die Aufgabe nicht nur von Ministerpräsident Tusk, sondern auch seines Außenministers Radosław Sikorski (Bürgerplattform) sein. Sikorski war 2007 bis 2014 schon einmal Außenminister unter Tusk. 

Kritik aus der Ukraine

Polens unverbrüchliche Unterstützung des Nachbarlandes Ukraine im Angriffskrieg Russlands nicht nur militärisch, sondern auch durch die Aufnahme von knapp einer Million Geflüchteter, hatte im Wahlkampf Kratzer bekommen. Auf der großen Bühne der Vereinten Nationen hatte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyi Polen für den Einfuhrstopp ukrainischen Getreides kritisiert. 

Sowohl dieser Konflikt als auch die Grenzblockaden polnischer Trucker wegen der Bevorzugung ukrainische LKW-Fahrer sorgen aktuell für Unmut. Diese Probleme muss die neue Regierung anpacken. Strategisch steht die eindeutige Unterstützung der Ukraine in der Abwehr des russischen Angriffs jedoch nicht zur Debatte. Der neue Verteidigungsminister Władysław Kosiniak-Kamysz aus den Reihen der Bauernpartei, der bereits von 201 bis 2015 unter Tusk Arbeitsminister war, wird den grundsätzlichen strategischen Kurs Polens zur Unterstützung der Ukraine fortsetzen. 

Die Nowa Lewica stellt drei Minister im neuen Kabinett, zudem wird der Parteivorsitzende Włodzimierz Czarzasty zur Mitte der Legislaturperiode das Amt des Parlamentspräsidenten übernehmen. Krzysztof Gawkowski, bislang Fraktionsvorsitzender, wird stellvertretender Ministerpräsident und Minister für Digitalisierung. Agnieszka Ewa Dziemianowicz-Bąk wird Ministerin für Familie und Sozialpolitik, darin ist auch das Ressort für Arbeit enthalten. 

Einsatz für Frauenrechte

Sie wird sich in ihrer neuen Position auch für die Frauenrechte einsetzen, insbesondere die Liberalisierung des Abtreibungsrechts war eine Wahlkampfforderung der Nowa Lewica. Das Ministerium für Wissenschaft und Bildung geht ebenfalls an die Sozialdemokrat*innen. Bildungsminister wird Dariusz Wieczorek. Die Einigung der Koalitionäre sieht vor, dass in allen Häusern Repräsentanten der Koalitionspartner vertreten sind, so werden Politiker der Nowa Lewica als stellvertretende Minister oder Staatssekretäre auch in den übrigen Ministerien mitentscheiden. 

In ihrer gemeinsamen Mission zur Wiederherstellung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit muss die neue Koalition möglichst bald Erfolge produzieren. Gleichzeitig ist das in der Sache und auch aufgrund der Kohabitation mit Präsident Duda die schwierigste Aufgabe. Ein sichtbarer Erfolg wäre das Loseisen der eingefrorenen Wiederaufbau-Mittel aus Brüssel. Mit Blick auf die Europawahlen Anfang Juni 2024 wäre hier eine schnelle Lösung wünschenswert. Die Unterstützung der EU-Kommission kann dabei als sicher gelten. 

Die Chance auf einen Neustart bietet sich auch für das deutsch-polnische Verhältnis. Nach den finsteren Jahren der PiS-Regierungszeit, die auf Deutschland als Feindbild in den Augen ihrer eigenen Wahlbevölkerung gesetzt hatte und im Oktober 2022 offiziell gar Reparationen für die Schäden des Zweiten Weltkriegs von der Bundesregierung gefordert hatte, gibt es durchaus Grund für Optimismus.

Selbstbewusstes Polen

Nicht alle Interessenunterschiede lösen sich mit dem Antritt der neuen Regierung in Polen in Luft auf. Polen wird aufgrund gewachsener wirtschaftlicher Stärke und aufgrund seiner geopolitischen Position in der Nachbarschaft zur Ukraine mit größerem Selbstbewusstsein auftreten können. 

Diese neue Zentralität Polens nicht im Zwist mit der EU, sondern als Partner auf Augenhöhe mit Deutschland und Frankreich zu realisieren, wird eines der Ziele von Tusk und Sikorski sein. Aus polnischer Sicht geht es also nicht etwa zurück zu den Zeiten, als Polen ein Junior-Partner Deutschlands war. Das kann dem deutsch-polnischen Verhältnis durchaus neue und wertvolle Impulse geben. 

Dietmar Nietan, der Polen-Koordinator der Bundesregierung, wird nicht müde, für eine „Positiv-Agenda“ Deutschlands zu werben, mit der wir auf Polen zugehen sollten. Dieses „Wir” kann und soll dabei weit gefasst sein. Städtepartnerschaften, grenzübergreifende Zusammenarbeit auf Landes- oder Gemeindeebene, deutsch-polnische Vereinsarbeit, Schulkooperationen, Jugendaustausch und Ähnliches müssen keine Störsignale aus Warschau mehr fürchten und können mit neuen Impulsen ungemein belebt werden. 

Autor*in
Max Brändle

leitet das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Warschau. Zuvor war er Leiter des FES-Büros in Belgrad.

Weitere interessante Rubriken entdecken

1 Kommentar

Gespeichert von max freitag (nicht überprüft) am Do., 14.12.2023 - 07:22

Permalink

dh die Bundesregierung die Chance nutzen, mit einem demokratisch regierten Polen "reinen Tisch " zu machen, und endlich die Reparationen zahlen, die Polen so lange vorenthalten wurden. Zahlen müssen wir doch, so oder so, und zahlen wir in der Amtszeit einer demokratischen Regierung, kommt dies den demokratischen Kräften in Polen zugute. Man mag sich ja gar nicht vorstellen, was passieren würde, wenn die Zahlung zur Amtszeit der Pisregierung erfolgen würde- die wäre dann ja auf ewig am Ruder im Nachbarland. Das kann keiner wollen- also noch einmal- Reparationszahlung jetzt.