Neuer kanadischer Premier: Wie Mark Carney von Trumps Zöllen profitiert
Trumps Zollpolitik und seine Rhetorik haben die kanadische Politik durcheinandergewirbelt. Dem neuen Premier und den Liberalen könnte dies helfen, womöglich sogar mit schnellen Neuwahlen.
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Mark Carney hat in Kanada die Nachfolge von Justin Trudeau angetreten.
Seit Monaten wird Kanada durch Donald Trumps massiven und ungerechtfertigten Zollkrieg erschüttert. Inmitten dieser wirtschaftlichen Turbulenzen herrscht auf Kanadas politischer Bühne auch deswegen der Ausnahmezustand, weil die Parlamentswahlen kurz bevorstehen und dabei für die kanadische Bevölkerung viel auf dem Spiel steht; denn sie fragt sich, wie eine Zukunft ohne die Unterstützung der USA aussehen könnte.
Trumps Zölle bringen das Verhältnis zu Kanada ins Wanken
Nur wenige Länder können von sich behaupten, dass sie in normalen Zeiten so freundschaftlich miteinander verbunden sind wie Kanada und die Vereinigten Staaten. Sie teilen sich die längste unbewachte Grenze der Welt, die sich über fast 9 000 Kilometer erstreckt. Die meisten Kanadier*innen leben weniger als 150 Kilometer von der US-Grenze entfernt und überqueren sie regelmäßig, um in den USA einzukaufen, Urlaub zu machen oder dem Winter nach Florida und anderswohin zu entfliehen. Kanada und die USA haben unzählige Krisen und Katastrophen Seite an Seite durchgestanden – vom Geiseldrama im Iran bis zum Hurrikan Katrina, von der 13-jährigen Mitwirkung an der NATO-Mission in Afghanistan bis zum 11. September und zum alljährlichen Einsatz kanadischer Feuerwehrleute bei der Waldbrandbekämpfung in Kalifornien.
Auch der Handel zwischen Kanada und den USA ist eng verflochten. Rund 80 Prozent aller kanadischer Exporte gehen in das südliche Nachbarland, fast 75 Prozent der kanadischen Einfuhren kommen aus den USA. Entsprechend stark ist Kanada von amerikanischen Produkten und Lieferketten abhängig. Die enge Beziehung zahlt sich aus: Das Handelsvolumen zwischen beiden Nationen beläuft sich auf mehr als 950 Milliarden Kanadische Dollar im Jahr und sichert Millionen von Arbeitsplätzen beidseits der Grenze. Trumps Zölle bringen das traditionell stabile Verhältnis allerdings heftig ins Wanken. Obwohl das bestehende Freihandelsabkommen zwischen Kanada und den USA von Trumps Vorgängerregierung ausgehandelt wurde, hält der US-Präsident an seiner haltlosen Behauptung fest, die USA würden Kanada subventionieren. Er verhängte Zölle von 25 Prozent auf kanadische Waren und von 10 Prozent auf Energieexporte und deutete mit seinem Ausspruch vom „51. Bundesstaat“ wiederholt die Möglichkeit einer Annexion Kanadas an.
Kanada liefert die Energie für den Nordosten der USA
Besonders schwer unter einem Zollstreit hätte die Provinz Ontario zu leiden, denn sie ist Kanadas Wirtschaftsmotor. Ihre Automobilindustrie, die sehr eng mit den USA verflochten ist, steuert jedes Jahr rund 19 Milliarden Kanadische Dollar zur Wirtschaftsleistung des Landes bei. Die grenzüberschreitende Verflechtung ist so eng, dass die Teile für ein Auto vor der Endmontage oft bis zu achtmal die kanadisch-amerikanische Grenze überqueren. Für diese Branche sind reibungslose Handelsbeziehungen daher unerlässlich.
Die Auswirkungen der Zölle machten sich schnell im ganzen Land bemerkbar. Der Aluminiumindustrie in Quebec, die für etwa 60 Prozent der nordamerikanischen Produktion verantwortlich ist, droht große Gefahr. In British Columbia macht sich bei den Holzerzeugern Beunruhigung breit, weil rund die Hälfte ihrer Exporte für den US-Markt bestimmt ist. Auch der Energiesektor ist stark in die Handelsbeziehungen eingebunden: Kanada versorgt den Nordosten der USA mit Strom und liefert rund 60 Prozent des in die USA importierten Rohöls.
Wie Kanada im Zollkrieg zurückschlägt
Viele Raffinerien sind speziell auf die Verarbeitung von Rohöl aus kanadischen Ölsanden ausgelegt. Auf diesen unprovozierten Angriff seines Nachbarn hat Kanada schnell und entschlossen reagiert. Die Bundes- und Provinzregierungen verhängten Gegenzölle in gleicher Höhe, stoppten landesweit den Verkauf von Alkohol aus den USA und drohten sogar mit einer Einstellung der Stromexporte. Kanadier*innen stornieren geplante Reisen in die USA, boykottieren amerikanische Produkte, organisieren Proteste und haben sich zu einer breiten Buy Canadian-Bewegung formiert.
Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Ipsos haben 65 Prozent der Kanadier*innen vor, nicht mehr in die Vereinigten Staaten zu reisen, und 67 Prozent wollen keine US-Produkte mehr kaufen – ein deutliches Zeichen für den zunehmenden Nationalismus, der sich unter dem Eindruck von Trumps Drohungen in der kanadischen Bevölkerung ausbreitet. Auch politisch wird Kanada von Trumps Zollkrieg durcheinandergewirbelt. Noch vor wenigen Monaten sah es so aus, als seien Premierminister Justin Trudeau und seine Liberale Partei politisch am Ende.
Mark Carney als Hoffnungsträger
Trudeau war nach einem Jahrzehnt in der Regierung äußerst unbeliebt und geriet unter innerparteilichen Rücktrittsdruck. Als sicherer Sieger der Wahl 2025 galt der konservative Parteichef Pierre Poilievre, der einen lautstarken Anti-Woke-Populismus zu seinem Markenzeichen gemacht hat. Dann jedoch löste Trudeaus überraschender Rücktritt im Januar ein Rennen um den Vorsitz der Liberalen Partei aus – genau zu dem Zeitpunkt, als Trump seinen Handelskrieg vom Zaun brach. Diese chaotische Situation nutzte Mark Carney, um auf den Plan zu treten. Er wurde im März mit überwältigender Mehrheit zum neuen Vorsitzenden der Liberalen Partei gewählt und ist seit Freitag der neue Premierminister.
Der aus Kanadas Nordwest-Territorien stammende Carney ist ein international renommierter Ökonom. Er studierte in Harvard und Oxford, arbeitete bei Goldman Sachs, war während der Finanzkrise 2008 Gouverneur der Bank of Canada und später, während des Brexits und der Coronapandemie, Chef der britischen Zentralbank. Der Experte für Weltwirtschaft ist für seine Sympathien für eine kohlenstoffarme Wirtschaftspolitik bekannt und hebt sich damit deutlich vom elitefeindlichen Populismus seines konservativen Gegenkandidaten ab. Nach zehn Jahren progressiver Politik unter Justin Trudeau hat Carney rasch signalisiert, dass er die Liberale Partei wieder in die politische Mitte rücken werde: Er will die Staatsausgaben senken, Trudeaus unbeliebte CO2-Steuer abschaffen und die Kapitalertragssteuer zurücknehmen, die auf Kanadas reichste Bevölkerungsschicht abzielt.
Kommen bald Neuwahlen?
Mit Carney an der Spitze versuchen die Liberalen die enttäuschten Wähler*innen zurückzugewinnen, die sie in den vergangenen zwei Jahren an die Konservativen verloren haben. Sie werden ihren neuen Vorsitzenden schon bald einer Bewährungsprobe unterziehen. In Ottawa wird heftig darüber spekuliert, ob Carney nach seiner Vereidigung innerhalb weniger Tage Neuwahlen herbeiführen werde, um den momentanen Aufwind seiner Partei zu nutzen. Carneys Partei hat den 20-Prozentpunkte-Rückstand auf die Konservativen aufgeholt und liegt mittlerweile mit ihnen gleichauf.
Trump und das Verhältnis zu den USA sind das Thema, welches die kanadische Bevölkerung derzeit am stärksten umtreibt, mehr noch als die Sorgen der Wähler*innen um Arbeitsplätze und die Wirtschaft. Dieses Thema war in den vergangenen zwei Jahren das Steckenpferd der Konservativen. Carneys Team setzt darauf, dass die aufgrund von Trumps Drohgebärden besorgte kanadische Bevölkerung sich einen gelassenen Krisenmanager wünscht. Außerdem sehen Carneys Berater die Chance, den Vorsitzenden der Konservativen, Pierre Poilievre, als „Trump Light“ hinzustellen, weil er ähnlich auftritt wie der US-Präsident und eine ähnliche Anhängerschaft hat. Angesichts des Zollstreits waren viele Konservative nicht glücklich darüber, dass Elon Musk sich im Januar in die kanadische Politik einmischte und sich für Poilievre starkmachte.
Große Herausforderungen für Sozialdemokratie
Die jüngsten Wahlen in Kanadas bevölkerungsreichster Provinz Ontario zeigen, wie sehr Trumps Zölle die kanadische Politik aufmischen. Ontarios konservativer Premierminister Doug Ford sicherte sich eine dritte Amtszeit, indem er sich als Gegner von Trumps Zöllen positionierte und Kanadas Stolz und wirtschaftliche Stärke zum Wahlkampfthema machte. Trotz wachsender Unbeliebtheit seiner Regierung gewann er die Wahl. Liberale Strategen setzen darauf, dass dieser Weg auch Carney offensteht. Diese politischen Veränderungen stellen die kanadischen Sozialdemokrat*innen, die New Democratic Party (NDP), die derzeit landesweit an vierter Stelle liegt, vor große Herausforderungen.
Die NDP hat es schwer, sich in den nationalistischen Debatten als Vertreterin der arbeitenden Bevölkerung zu profilieren, die von den Zöllen betroffen ist. Sie wird mit den Gewerkschaften zusammenarbeiten, um die Auswirkungen des wirtschaftlichen Chaos abzumildern. Das durch Trumps Zölle ausgelöste wirtschaftliche Chaos macht auch deutlich, wie abhängig Kanadas Wirtschaft und Sicherheit von den USA sind. Trumps aggressive Zollpolitik und seine NATO-feindliche Haltung könnten dazu führen, dass sich Kanada wieder stärker Europa zuwendet.
Die gemeinsamen Werte und die Beunruhigung angesichts einer sich wandelnden Weltordnung werden in den kommenden Jahren vermutlich dazu führen, dass Kanada und Europa zu noch wichtigeren Handels- und Verteidigungspartnern füreinander werden. Zum ersten Mal in der jüngeren Geschichte hängt die Wahl in Kanada vor allem davon ab, wie sich die Beziehungen zu den USA gestalten. Dadurch verschieben sich die Prioritäten der Wählerschaft deutlich von innenpolitischen Wirtschaftsthemen hin zu Fragen von Handel, ökonomischer Sicherheit und Arbeitsplätzen. Trump wird bei der bevorstehenden Wahl eine ebenso wichtige Rolle spielen wie die verschiedenen Premierministerkandidaten – und bringt Kanada politisch in eine unkalkulierbare Situation, deren Ausgang für die kommenden Jahrzehnte entscheidend sein wird.
Am 18. März erschienen im IPG-Journal.
ist Programmverantwortliche für transatlantische Beziehungen und Kanada des Washingtoner Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung.