Nahostkonflikt: Warum in der Krise auch eine Chance liegt
Inmitten der Katastrophe gibt es in Israel auch Hoffnung auf einen neuen politischen Prozess in Richtung Zweistaatenlösung.
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Proteste gegen die Regierung von Ministerpräsident Netanyahu in Israel.
Mehr als fünf Monate sind seit dem beispiellosen Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober und dem Beginn der militärischen Reaktion Israels vergangen. Zehntausende Tote sind seitdem zu beklagen, 134 Geiseln sind weiterhin verschleppt. Wie viele von ihnen noch leben, ist nicht bekannt. Aufgrund von Berichten inzwischen befreiter Geiseln ist zu befürchten, dass die Frauen in Geiselhaft andauernder sexualisierter Gewalt ausgesetzt sind.
Derweil dauern die Kämpfe im Gazastreifen auch nach Beginn des Ramadans an. Im Februar schien eine neue Vereinbarung über einen Austausch weiterer Geiseln gegen palästinensische Häftlinge in Verbindung mit einer Feuerpause bereits zum Greifen nah. Bislang ist es dazu aber nicht gekommen.
Der von Anfang an bestehende Zielkonflikt zwischen der Zerschlagung des militärischen Potenzials der Hamas einerseits und der Geiselbefreiung andererseits spitzt sich zu. Gleichzeitig spricht vieles dafür, dass es das propagandistische Kalkül der Hamas-Führung im Gazastreifen war, die Kämpfe in den Ramadan hineinzuziehen, um religiös motivierte Ausschreitungen zu provozieren.
Eine Zeitenwende für Israel
Für Israel stellt der 7. Oktober eine Zeitenwende dar, deren Auswirkungen noch nicht absehbar sind. Das Vertrauen in staatliche Institutionen ist erschüttert und das Land kollektiv traumatisiert. Die Einbußen für die israelische Wirtschaft sind immens. Allein die Kosten für Reservist*innen, Kompensationszahlungen und die Evakuierungen Zehntausender Menschen summieren sich auf täglich rund 250 Millionen Euro.
Die militärische Lage im Norden bleibt höchst volatil: Nahezu kein Tag vergeht ohne massiven Beschuss durch die Hisbollah und Gegenangriffe Israels. Es ist unsicher, ob und wann die Evakuierten dort – wie auch im Süden – in ihre Wohnorte zurückkehren können. Unterdessen sitzt Israel in Den Haag auf der Anklagebank, nicht aber die Hamas, da sich die Zuständigkeit des Internationalen Gerichtshofs auf Staaten beschränkt. Das Verfahren wird in Israel als einseitig und politisch-ideologisch motiviert abgelehnt, gleichwohl aber ernst genommen.
Angesichts der katastrophalen humanitären Lage im Gazastreifen steigt der internationale Druck auf die israelische Regierung. Auch im Inneren nimmt der Druck auf Netanyahu stetig zu: Führende Vertreter*innen des Sicherheitsapparates nennen das Regierungshandeln unverantwortlich und desaströs.
Jeden Samstag demonstrieren Zehntausende Menschen landesweit für eine Rückkehr der Geiseln und gegen die Regierung. Eine Mehrheit der israelischen Bevölkerung fordert Netanyahus Rücktritt, dessen Politik einzig und allein an seinen eigenen Interessen ausgerichtet ist.
Bruchlinien innerhalb der Koalition treten aktuell aber vor allem in einer anderen Frage zutage: Das in der säkularen Bevölkerung höchst unpopuläre Gesetz, das die Freistellung ultraorthodoxer Männer vom Militärdienst regelt, wird seit der Staatsgründung immer wieder erneuert und angepasst – Mitte vergangenen Jahres ist es ausgelaufen.
Die von der Koalition eigentlich geplante Neufassung wird aber angesichts der allgemeinen Gefahrenlage selbst von einigen Regierungsmitgliedern abgelehnt. Außerdem beschäftigt sich weiterhin das Oberste Gericht mit der Frage, ob Sonderregeln für Ultraorthodoxe mit den Grundgesetzen des Staates vereinbar sind.
Warum Neuwahlen nicht unwahrscheinlich sind
Benny Gantz und Gadi Eisenkot, die eigentlich dem Oppositionslager angehören, aber nach dem 7. Oktober mit drei weiteren Ministern ihres Bündnisses der Notstandsregierung beigetreten sind, haben einen Gesetzentwurf vorgelegt, wonach es der Armee zukünftig möglich sein soll, auch Ultraorthodoxe einzuberufen.
Verteidigungsminister Yoav Gallant (Likud) erklärte daraufhin öffentlich, dass er ein neues Einberufungsgesetz nur vorlegen werde, wenn auch Benny Gantz es mittragen würde. Ohne eine Fortsetzung der Freistellung ihrer Klientel dürften aber die ultraorthodoxen Parteien die Regierungskoalition verlassen. Netanyahu würde damit zu einem Zeitpunkt seine Mehrheit verlieren, an dem Benny Gantz in Meinungsumfragen mit großem Abstand führt.
Allerdings wurde vor wenigen Tagen das National-Unity-Bündnis unter der bisherigen Führung von Benny Gantz von dem ehemaligen Justizminister Gideon Saar aufgelöst, der nun wieder eigenständig agiert und um Aufnahme in das Kriegskabinett bat. Dies wiederum könnte das politische Kräfteverhältnis zugunsten Netanyahus verschieben.
Trotz anhaltend schlechter Umfragewerte des Likud, der bei Neuwahlen mit einer Halbierung seiner Sitze rechnen müsste, halten sich potenzielle Herausforderer Netanyahus vom gemäßigten Likud-Flügel – wie der ehemalige Knesset-Präsident Yuli Edelstein – bislang bedeckt.
Auch bei den gerade abgehaltenen Kommunalwahlen zeigte sich der Abwärtstrend des Likud. Gestärkt aus den Bürgermeister- und Gemeinderatswahlen gingen dagegen orthodoxe, aber auch progressiv-liberale Kandidaten hervor, die in unterschiedlichen Bündniskonstellationen angetreten waren.
Sollte der Likud in dieser Lage Netanyahu fallen lassen und ein neuer Likud-Premier die rechtsextremen Minister Ben-Gvir und Smotrich entlassen, könnte es sein, dass Benny Gantz mit seiner Partei bis zu baldigen Neuwahlen in der Regierung bleibt. Denn dass es Wahlen erst nach dem regulären Ende der Legislaturperiode geben wird, gilt als nahezu ausgeschlossen.
Netanyahus Strategie ist gescheitert
Inmitten von Krieg und Krise zeichnet sich aber auch eine Chance ab: Denn das Konzept Netanyahus beziehungsweise der politischen Rechten, einen Ausgleich mit arabischen Staaten von einer Friedensregelung mit den Palästinensern zu entkoppeln und stattdessen den Status quo zu managen, ist am 7. Oktober auf dramatische Weise gescheitert.
In Verbindung mit dem starken politischen Druck aus Washington und der Bereitschaft Saudi-Arabiens, im Gegenzug für die Lösung der Palästinafrage die Beziehungen mit Israel zu normalisieren, entsteht ein Momentum für die Wiederbelebung eines politischen Prozesses Richtung Zweistaatenlösung: Militärisches Vorgehen ersetze nicht politisches Handeln, heißt es im Antiregierungslager. Ohne ein Abkommen, ohne klare Grenzen und ohne Selbstbestimmung für die Palästinenser werde es keine dauerhafte Sicherheit für Israel geben.
Progressive Thinktanks haben Konzepte erarbeitet und gemeinsam mit Oppositionspolitiker*innen vorgestellt, wie eine Roadmap in mehreren Schritten am Ende zu einem entmilitarisierten palästinensischen Staat führen könnte.
Beginnen würde ein solcher regional eingebundener und international flankierter Prozess mit einer Friedenskonferenz, dem Wiederaufbau sowie einer temporären, multinationalen Militärmission im Gazastreifen unter Beteiligung moderater arabischer Staaten. Auf eine zwei- bis dreijährigen Phase der Vertrauensbildung und auf die Reform der Palästinensischen Autonomiebehörde könnte die Wiederaufnahme direkter israelisch-palästinensischer Verhandlungen folgen.
Neue Hoffnung im linken Lager
Damit solche Pläne politisch-parlamentarischen Rückhalt finden und der Friedensprozess wieder ins Zentrum des öffentlichen Diskurses gelangt, muss sich das derzeit noch marginalisierte linkszionistische Lager personell, strukturell und programmatisch neu aufstellen.
Jüngste Entwicklungen deuten in diese Richtung: Hoffnungsträger ist der ehemalige stellvertretende Generalstabschef Yair Golan, der während des Hamas-Angriffs mehrere Teilnehmer des Nova-Festivals gerettet hat. Golan, Ex-Knesset-Abgeordneter und 2021/2022 stellvertretender Wirtschaftsminister, wird für den Vorsitz der Arbeitspartei kandidieren. Er will in dieser Funktion die linkszionistischen Parteien vereinen und in eine gemeinsame Liste auch Protagonisten der Protestbewegung gegen die „Justizreform“ sowie Kandidaten aus der politischen Mitte einbinden.
Golan spricht sich für eine topografische Trennung der palästinensischen und der jüdischen Bevölkerung im Westjordanland und für die Aufgabe eines Teils der jüdischen Siedlungen aus. Für weiterbestehende Siedlungen soll die palästinensische Seite in Form eines Gebietstauschs kompensiert werden.
Die Sicherheitsverantwortung für das Westjordanland sieht Golan bis auf Weiteres bei Israel, aber auch sein Konzept ist ein Weg hin zu einer möglichen Zweistaatenlösung. Die Vorwahlen der Arbeitspartei sind für Ende Mai terminiert, was von vielen als sehr spät kritisiert wird.
Unterdessen sind die Aussichten auf einen Politikwechsel in Israel durchaus konkret: Meinungsumfragen zeigen eine konstante Mehrheit für die Vorkriegsopposition. In ersten Befragungen nach der Ankündigung Yair Golans, das linke Lager vereinigen zu wollen, käme ein linkszionistisches Bündnis aus dem Stand auf neun Sitze.
Und mit veränderten politischen Mehrheitsverhältnissen verbindet sich nicht zuletzt die Hoffnung, die gesellschaftliche Spaltung und den Schaden für die Demokratie zu überwinden, die Netanyahu und seine rechtsextremen Koalitionspartner zu verantworten haben.
Auch wenn die politische Rechte wohl vorerst nicht von ihrem Ziel ablassen wird, die Besetzung des Obersten Gerichts in ihrem Sinne zu beeinflussen und die Judikative zu schwächen: Die von der Regierung vor dem Krieg geplanten weiteren legislativen Projekte im Zusammenhang mit der sogenannten Justizreform sind zumindest in dieser Form mit hoher Wahrscheinlichkeit vom Tisch. Auch dies ist eine Chance in der Krise.
Dieser Artikel erschien zuerst im IPG-Journal.
leitet seit Juni 2020 das Regionalbüro Dialog Südosteuropa der Friedrich-Ebert-Stiftung in Sarajevo. Davor war er u.a. als Leiter der FES-Büros in Tunis und München und im Referat Naher/Mittlerer Osten und Nordafrika tätig.