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Welche Perspektiven es für Gaza gibt – und was Deutschland tun sollte

Die israelische Armee rückt weiter in den Gazastreifen vor. Was aber passiert mit dem Gebiet, wenn der Militär-Einsatz beendet ist? Die Möglichkeiten hängen ab vom Zustand der Hamas und dem Vorgehen der israelischen Regierung.
von René Wildangel · 8. November 2023
Flucht aus Gaza-Stadt: Dauerhafte israelische Sicherheit wird es nicht geben, ohne auch die Sicherheit der Palästinenseri*nnen zu adressieren.
Flucht aus Gaza-Stadt: Dauerhafte israelische Sicherheit wird es nicht geben, ohne auch die Sicherheit der Palästinenseri*nnen zu adressieren.

Was passiert, wenn der militärische Einsatz im Gazastreifen beendet ist? Darauf gibt es noch keine verlässliche Antwort, ebenso wenig wie auf die Frage, wann das der Fall sein könnte. Der israelische Verteidigungsminister Yoav Gallant sprach bereits von Monaten, die es dauern könnte, bis das Ziel der weitgehenden Ausschaltung der Hamas erreicht sein könnte. Eine so lange Kriegsdauer wäre ein Albtraumszenario für Gazas Zivilist*innen.

Denn schon jetzt ist die Lage katastrophal: Tausende Tote, Zehntausende Verletzte und von den Vereinten Nationen geschätzte 1,5 Millionen intern Vertriebene. Ein Drittel der Krankenhäuser in Gaza sind nach UN-Angaben nicht mehr in Betrieb. Die jetzt im Süden konzentrierten, traumatisierten Menschen leiden unter der Abriegelung des Gebiets, wodurch weiterhin nur einen Bruchteil der benötigten Hilfsgüter ankommt. Vor allem aber halten sich noch immer Hundertausende im weitgehend abgeschnittenen nördlichen Teil des Gazastreifens auf, weil sie ihr Zuhause nicht verlassen wollen oder können.

Kann die Hamas überhaupt besiegt werden?

Die wichtigsten humanitären Akteure drängen angesichts der dramatischen Lage ebenso wie UN-Generalsekretär Guterres auf einen Waffenstillstand oder wenigstens humanitäre Feuerpausen. Auch US-Außenminister Blinken trug dies zuletzt in Israel vor, doch der israelische Premierminister Netanjahu lehnt das bisher strikt ab. Obwohl, oder vielleicht auch gerade weil derzeit kein Ende des Krieges in Sicht ist, hat die Debatte über den „Tag danach“ und verschiedene Nachkriegs-Szenarien begonnen. Auch solche möglichen Szenarien hängen allerdings stark vom Fort- und Ausgang des Kriegs ab.

So bezweifeln viele Beobachter*innen, dass die Hamas überhaupt vollständig besiegt werden kann. Denn sie verfügt nicht nur über weit verzweigte Tunnelanlagen, große Waffenvorräte und mächtige staatliche Unterstützer sowie Führungsstrukturen außerhalb Gazas. Sie hat auch ein großes Reservoir bewaffneter Kämpfer sowie ziviler Angestellter und Unterstützer*innen. Auch wenn die Unzufriedenheit mit der Hamas angesichts ihrer Korruption und zunehmend autoritären Herrschaft in den letzten Jahren stark angewachsen ist – Wut und Schmerz der Menschen in Gaza (und in weiten Teilen der arabischen Welt) richten sich jetzt angesichts der weitreichenden Zerstörungen in erster Linie gegen Israel.

Mögliche Szenarien für Gaza

Sollte die Hamas angesichts dieser Rahmenbedingungen einen Teil ihrer Macht, Bewaffnung und Kontrolle behalten und somit eine wie auch immer geartete Transition verhindern, drohen äußerst negative Aussichten. In diesem Sinne weist Nathan Brown darauf hin, dass der „Tag danach“ dann komplett ausfallen könnte. Die Blockadepolitik, die zur Verelendung des Gazastreifens geführt hat, würde dann wohl noch massiver als in den Jahren 2007 bis 2023 fortgesetzt; ein großer Teil der Bevölkerung bliebe intern vertrieben, ein Wiederaufbau des bereits jetzt in weiten Teilen zerstörten Gebietes wäre kaum möglich. Der Norden Gazas könnte dauerhaft entvölkert und militärisches Sperrgebiet werden. Große Teile der Bevölkerung, insbesondere Gazas eine Million junger Menschen unter 18 Jahren, hätten dann eigentlich nur noch die Hoffnung, den Gazastreifen trotz wohl weiterhin geschlossener Grenzen irgendwie verlassen zu können.

Andere derzeit diskutierte Szenarien, die eine neue, positivere Perspektive für Gaza zu beschreiben suchen, setzen dagegen ein Ende der Hamasherrschaft voraus. Tatsächlich scheint dies nach den Gräueltaten vom 7. Oktober die einzige Chance, auch gegenüber der israelischen Regierung eine politische Transition, ein neues Sicherheitsregime und einen massiven wirtschaftlichen Aufbau im Gazastreifen zu vertreten. Wie das gestaltet werden könnte, deutete zuletzt der amerikanische Außenminister Blinken im US-Kongress an: Er sprach von möglichen internationalen und regionalen Garanten der Sicherheit im Gazastreifen und befürwortete überraschend deutlich eine Übergabe der Verwaltung an eine „wiedererstarkte“ Palästinensische Autonomiebehörde. Allerdings ist der Weg bis dahin noch weit.

Was die Bundesregierung tun sollte

Was könnte angesichts dieser schwierigen Gesamtlage die Bundesregierung jetzt tun? Je stärker mit den Angriffen auf die Hamas die Zerstörung der zivilen Infrastruktur voranschreitet und das Leid der Zivilbevölkerung wächst, umso schwieriger werden die Aussichten für wie auch immer geartete Transitionsprozesse, die einen Erhalt der grundlegendsten humanitären Strukturen und Wiederaufbau voraussetzen. Daher wäre das wichtigste Ziel, dass sich die Bundesregierung unmissverständlich den Forderungen nach einem humanitären Waffenstillstand anschließt, der dann auch genutzt werden kann, um alles daran zu setzen, eine Freilassung der entführten israelischen Geiseln zu erreichen.

Untermauern sollte sie diese Forderung zweitens mit einem Bekenntnis zur Unterstützung der leidenden Zivilbevölkerung in Gaza. Die Vereinten Nationen haben deutlich gemacht, dass 1,2 Milliarden Dollar notwendig seien, um lediglich den aktuellen humanitären Bedarf im laufenden Konflikt zu decken. Entwicklungsministerin Svenja Schulze hat mit der Ankündigung, bereits zugesagte 71 Millionen Euro für das Palästinahilfswerk UNRWA freizugeben und 21 zusätzliche Millionen bereitzustellen einen wichtigen Schritt gemacht. Dieser folgt auf eine extrem kontraproduktive Debatte über die Infragestellung des deutschen Entwicklungs-Engagements in den palästinensischen Gebieten. Neben humanitärer Hilfe und Wiederaufbau-Zusagen ist gerade jetzt auch die Unterstützung der israelischen und palästinensischen Zivilgesellschaft und Menschenrechtsorganisationen, die zum Beispiel von den deutschen Stiftungen geleistet wird, wichtiger denn je.

Sicherheit für Israel und für Palästina

Drittens sollte die Bundesrepublik ihren Leitsatz von der „israelischen Sicherheit als deutscher Staatsräson“ jetzt mit Inhalten füllen: Welche konkreten Beiträge sind sinnvoll und machbar, was ist möglicherweise kontraproduktiv, um das wichtige Ziel eine Wiederholung des traumatischen 7. Oktober oder ähnlicher existentieller Angriffe auf die israelische Sicherheit zu verhindern? Dauerhafte israelische Sicherheit wird es nicht geben, ohne auch die Sicherheit der Palästinenserinnen und Palästinenser zu adressieren. Dazu gehören eine Eindämmung der Siedlergewalt in der Westbank und die Perspektive einer kontrollierten Öffnung des Gazastreifens. Mittelfristig wird nur ein echter Wiederaufbau und eine nachhaltige wirtschaftliche Perspektive eine Aussicht auf Sicherheit schaffen können.

Als wichtigster Finanzgeber der Palästinensischen Autonomiebehörde sollten Bundesregierung und EU gegenüber der palästinensischen, vor allem aber auch gegenüber der israelischen Regierung deutlich machen, dass diese Chance genutzt werden muss, um die palästinensische Autonomiebehörde als Nukleus des palästinensischen Staates zu stärken – so wie es ursprünglich bei ihrer Einrichtung gedacht und zuletzt 2010 vom ehemaligen Ministerpräsidenten Salam Fayyad und dessen Staatsaufbauplan intendiert war. Zentrale Voraussetzung wäre eine demokratische Legitimierung, auch wenn sie unter den derzeitigen Bedingungen äußerst schwierig zu erreichen wäre.

Aber der palästinensische Ministerpräsident Stayye hat klar gemacht, dass die Autonomiebehörde nicht „auf dem Rücken israelischer Panzer“ einrücken würde. Deutschland und Europa müssen gemeinsam mit den USA die Schaffung eines palästinensischen Staates wieder auf die Tagesordnung setzen – im Zweifelsfall gegen die ultrarechte Regierung Netanyahu, die in der Westbank mit der Ermächtigung bewaffneter Siedler und rasanter Landnahme massiv Fakten schafft und jede Bewegung in Richtung einer Zweistaatenperspektive verhindern will. Eine andere Regelung, die auf absehbare Zeit Sicherheit und Entwicklung für Israelis und Palästinenser garantiert, ist aber weniger denn je in Sicht.

Autor*in
René Wildangel

ist Historiker, Dozent an der International Hellenic University in Thessaloniki und Autor mit Schwerpunkt Naher Osten und östliches Mittelmeer. Von 2012 bis 2015 leitete er das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Ramallah.

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