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Istanbuler CHP-Bürgermeister: Droht İmamoğlu ein endloses Verfahren?

Seit Mitte März sitzt der – inzwischen abgesetzte – Istanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu in Haft. Innerhalb und außerhalb des Gerichtssaals hat längst der Kampf um die Deutungshoheit begonnen. Für die Menschen in der Türkei wird es immer schwieriger zu beurteilen, was der Wahrheit entspricht.

von Kristina Karasu · 17. Juni 2025
Demonstranten für den inhaftierten ehemaligen Bürgermeister İmamoğlu.

Demonstration für den inhaftierten ehemaligen Istanbuler Bürgermeister İmamoğlu: „Die Türkei ist stolz auf dich!“

Als Ekrem İmamoğlu am Montagmorgen den Gerichtssaal betritt, empfängt ihn das Publikum mit Applaus und Slogans. „Die Türkei ist stolz auf dich!“ und „Hallo Staatspräsident!“ rufen ihm Anhänger*innen und Parteikolleg*innen zu, so berichten Beobachter*innen. Der abgesetzte Bürgermeister der 16-Millionen-Metropole Istanbul, der seit dem 19. März hinter Gittern sitzt, nutzt die Verhandlung für eine politische Rede. „Ich bin in diesem Kerker, weil ich Istanbul dreimal gegen diese Mentalität gewonnen habe“, betont İmamoğlu. „Wir werden hier nicht angeklagt, wir werden direkt bestraft!“

İmamoğlu drohen bis zu neun Jahre Haft

İmamoğlu wirft man in diesem Verfahren die Beleidigung des Istanbuler Oberstaatsanwaltes vor, dafür drohen ihm bis zu neun Jahre Haft und ein Politikverbot. Die Verhandlung findet im Gerichtssaal des Hochsicherheitsgefängnisses Marama in Silivri statt. Das Gefängnis ist die größte Haftanstalt Europas, hier saßen schon zahlreiche prominente Politiker*innen, Journalist*innen, Anwält*innen und Künstler*innen. Journalist Deniz Yücel saß hier ein Jahr, Kulturmäzen Osman Kavala ist bereits seit 2017 inhaftiert. Ihre Gemeinsamkeit: Sie sind scharfe Kritiker Erdogans.

Nach kaum zwei Stunden endet die Verhandlung, der Richter vertagt sie auf Juli. Auf ein schnelles Urteil kann İmamoğlu nicht hoffen. Hinter ihm liegen Wochen einer beispiellosen juristischen Hetzjagd. Am 19. März wurde er von einem Großaufgebot an Polizisten wegen angeblicher Anführung einer kriminellen Vereinigung, Korruption und Ausschreibungsmanipulation festgenommen. Damit nicht genug: In fünf großen Verhaftungswellen wurden in den vergangenen Wochen Dutzende Bürgermeister*innen, Bürokrat*innen, Berater*innen und Geschäftsleute aus seinem Umfeld festgenommen, derzeit sitzen weit über hundert Menschen deswegen in Haft. İmamoğlu weist alle Vorwürfe von sich und nennt es ein politisch motiviertes Verfahren; eine Anklageschrift liegt noch gar nicht vor. 

Türk*innen wünschen sich ein faires Verfahren für İmamoğlu

Allerdings haben mittlerweile 24 der Inhaftierten Reue gezeigt und ein Geständnis abgelegt. Sie berichten von Bestechung, Erpressung und Ausschreibungsmanipulationen in der Istanbuler Stadtverwaltung unter Federführung İmamoğlus. Seine Partei CHP bestreitet das und erklärt, die Häftlinge wären zu diesen Geständnissen gezwungen worden. Für die Bürger*innen des Landes ist schwer zu beurteilen, was tatsächlich der Wahrheit entspricht. Die meisten wünschen sich ein faires Verfahren für İmamoğlu – und Korruptionsverfahren über alle Parteigrenzen hinweg. Auch Erdogans AKP sah sich in der Vergangenheit schon mit massiven Korruptionsvorwürfen konfrontiert, doch die Verfahren verliefen damals im Sande. 

Für großen Unmut sorgte in der Bevölkerung ein Foto von Anfang Juni, das eine lange Reihe von oppositionellen Bezirksbürgermeistern und Verwaltungsangestellten in Handschellen zeigt, wie sie von Dutzenden Polizist*innen abgeführt werden. Über Parteigrenzen hinweg tönte Kritik, dass Bilder wie dieses an die dunkle Vergangenheit der türkischen Putsche erinnern.

Bilder İmamoğlus zu zeigen, ist inzwischen verboten

Für Furore sorgte auch die Aussage der seit dem 19. März inhaftierten Ex-Chefin des städtischen Medienbetriebes İpek Elif Atayman. Über ihre Tochter ließ sie erklären, dass sie scheinbar grundlos in einer winzigen Kabine in Handschellen von Istanbul ins sieben Stunden entfernte Ayon gebracht wurde. Im dortigen Gefängnis musste sie tagelang in der überfüllten Zelle auf dem Boden schlafen, sei psychologisch gequält wurde. In den Medien sorgte das für einen Aufschrei; erst daraufhin ließ der Justizminister anordnen, dass Atayman zumindest eine Pritsche erhalte. Dem Vertrauen in die türkische Justiz fügte das erneut großen Schaden zu.

Als sich die Sozialistische Internationale zur Ratstagung Ende Mai in Istanbul traf, hielten viele Teilnehmer*innen Schilder mit der Aufschrift „Free İmamoğlu“ in die Höhe. Ein Banner mit denselben Worten und İmamoğlus Konterfei hing von der Brücke über dem Bosporus in Istanbul. Das zog prompt Ermittlungen nach sich. Der Stadtverwaltung ist es mittlerweile verboten, auf Werbetafeln und Bildschirmen Bilder İmamoğlus zu zeigen – als könne man damit die Erinnerung an İmamoğlu aus dem kollektiven Gedächtnis löschen.

„Wir haben die Mauer der Angst eingerissen“

Tatsächlich sind die Massenproteste nach İmamoğlus Festnahme, in der wochenlang zehntausende vor allem junge Menschen auf die Straße zogen, längst abgeebbt. Doch auf den Campus des Landes brodelt es weiter, Student*innen diskutieren neue Formen des Widerstandes. So erklärt eine junge Istanbuler Studentin: „Wir haben die Mauer der Angst eingerissen. Die Regierung versucht nun panisch, sie wieder zu errichten, aber das wird nicht so leicht sein. Wir schweigen nicht mehr.“

Auch İmamoğlus Partei CHP tourt weiter durchs Land. CHP-Chef Özgür Özel hält jede Woche Massenkundgebungen in einstigen AKP-Hochburgen in Anatolien ab, mit beachtlichem Erfolg. In Umfragen für die Präsidentschaftswahl liegt İmamoğlu weiter vor Erdogan und die CHP vor Erdogans AKP. Probleme wie Hyperinflation, Wirtschaftskrise und mangelnde Rechtsstaatlichkeit im Land sind durch İmamoğlus Verhaftung ja nicht beseitigt. Doch der Staatspräsident spielt auf Zeit – und kann sich darauf verlassen, dass die Weltgemeinschaft angesichts zahlreicher Krisen und Kriege in der Region zu beschäftigt ist, um sich mit İmamoğlu zu befassen.

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Autor*in
Kristina Karasu

arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.

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