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Massenprotest in Belgrad: Warum Serbien am Scheideweg steht

Mehre hunderttausend Menschen haben am Wochenende in Belgrad gegen den serbischen Präsidenten Vučić demonstriert. Der Kampf für demokratische Selbstbestimmung wird nach dieser Machtdemonstration weitergehen. Wie er ausgeht, hängt auch davon ab, wie sich die EU positioniert.

von Kirsten Schönefeld · 17. März 2025
Den Druck aufrecht erhalten: Mehrere hunderttausend Menschen demonstrierten in Belgrad gegen den serbischen Präsidenten Vučić.

Den Druck aufrecht erhalten: Mehrere hunderttausend Menschen demonstrierten in Belgrad gegen den serbischen Präsidenten Vučić.

„Die Freiheit duftet nach Tulpen, die Nacht ist am dunkelsten vor Tagesanbruch.“ Mit diesen und ähnlich poetischen Umschreibungen drückten Studierende am vergangenen Wochenende aus, was sie mit dem größten Protest der Geschichte Serbiens verbinden. Aus allen Teilen des Landes waren sie in die Hauptstadt gekommen. Der 15. März war dabei nicht zufällig als Protesttag gewählt worden: Er erinnert an die 15 Menschen, die beim Einsturz eines Bahnhofsdachs in Novi Sad im vergangenen November ums Leben gekommen waren. Das Unglück markierte den Auftakt der Proteste gegen die Regierung, die seit viereinhalb Monaten anhalten und mit der Demonstration „Der 15. für 15“ am vergangenen Samstag ihren vorläufigen Höhepunkt erlebt haben.

Mit rotem Teppich in Belgrad begrüßt

Dass am Samstag der seit November zahlenmäßig größte Protest stattfinden würde, war im Vorfeld zu erahnen. Das Ausmaß des Protestes überraschte dann aber doch. Aus allen Landesteilen hatten sich Studierende zu Fuß, mit Fahrrädern, Autos oder Bussen auf den Weg gemacht, auch Landwirt*innen kamen mit Traktoren in die Hauptstadt. Am Vorabend des Protestes wurden sie bereits im Zentrum Belgrads von Bürger*innen mit einem roten Teppich, dem Ausruf „Pumpaj“ und großer Begeisterung empfangen. „Pumpaj“ (Pumpe) drückt hierbei den Druck aus, den die Protestierenden auf die Regierung ausüben wollen, die Hintergründe des Dacheinsturzes von Novi Sad aufzuarbeiten. Diese Aufarbeitung würde nach Meinung der Protestierenden zeigen, in welchem Ausmaß Korruption ursächlich für den Einsturz des Bahnhofsvordaches gewesen ist.

Am Samstag waren die Straßen übervoll. Das serbische Innenministerium sprach im Nachgang von 100.000 Personen, wobei verlässliche Quellen von 325.000 Personen ausgehen und die Zahl auch noch darüber liegen könnte. Bei einer Einwohner*innenzahl von 6,6 Millionen war also gefühlt ganz Serbien auf den Straßen Belgrads unterwegs und demonstrierte nicht nur für die Aufklärung des Unglücks, sondern auch für Demokratie, für ein Leben in Würde und Freiheit, fern von einem autokratischen Regime, dessen man sich überdrüssig fühlt. Alle stehen unter dem Vordach und wollen Veränderung – das ist dieser Tage das beherrschende Gefühl im Land.

Haben Armee oder Polizei eine Schallbombe eingesetzt?

Im Vorfeld hatte es bei der Protestbewegung Spekulationen über den möglichen Einsatz von Gewalt durch Polizei oder Armee oder über die Verhängung eines Ausnahmezustands gegeben. Die regierungsnahen Medien hingegen waren der Meinung von den Protestierenden könne Gewalt ausgehen. Am Samstag wurde den Parlamentarier*innen deshalb der Zugang zur Nationalversammlung verboten, da man vor einer möglichen Besetzung des Parlamentes Sorge hatte. Der Protesttag verlief dann bis zum Abend aber friedlich.

Es war die oberste Maxime der Protestbewegung, sich nicht provozieren zu lassen und sich friedlich zu versammeln. Ein Gegenprotest-Camp im Zentrum Belgrads, in dem sich mit Unterstützung der Polizei und verschiedensten, wahrscheinlich bezahlten Personen, auch maskierte junge Männer, verbarrikadierten, machte dies nicht ganz einfach. Das Camp machte viele Menschen in Belgrad wütend und dennoch gab es wenige Zwischenfälle bis zum Abend. Dann aber wurde die Stille eines 15-minütigen Schweigens durch den mutmaßlichen Einsatz einer Schallbombe brutal unterbrochen. Bis zu 100 Personen klagten im Nachgang dieses Vorfalls über Schwindel, Ohrensausen und Herzkreislaufprobleme. Polizei und Armee verneinten, diese Waffe eingesetzt zu haben. Daher wird es wichtig sein, zu erfahren, von welchen Organen oder Gruppierungen die Schallbombe verwendet wurde.

Der Wunsch nach demokratischer Selbstbestimmung

In den Tagen nach dem Protest dominierte die Diskussion über den Einsatz der Schallbombe und deren notwendige Verurteilung zu Recht die Diskussionen. Politische Konsequenzen von Seiten der Regierung und des Präsidenten, wie viele sie erwartet hatten, gab es bisher noch nicht. Ein politischer D-Day, den einige Kommentator*innen erwartet hatten, war dieser 15. März also nicht. Und dennoch steht Serbien nun am Scheideweg. Die Proteste werden weitergehen und zu viel ist geschehen. „Pumpaj“ bedeutet längst, dass es auch um politische Erneuerung gehen muss und drückt den Wunsch nach einem Land ohne Korruption und mit demokratischer Selbstbestimmung aus. Diese Forderungen zielen auch auf Präsident Vučić.

Jüngste Umfragen zeigen, dass 58 Prozent der Menschen im Land die Studierendenproteste unterstützen, während die Zustimmung zu Aleksandar Vučić nur noch bei 50 Prozent liegt, andere Umfragen sehen nur noch ein Drittel der Bürger*innen hinter dem Präsidenten. Die bisher ausgebliebenen Konsequenzen werden also folgen müssen. Präsident Vučić geht bisher davon aus, dass entweder eine neue Regierung gebildet wird, nachdem vor einigen Wochen der Premierminister zurückgetreten war. Das andere Szenario wären Neuwahlen im Juni.

Die USA könnten eine wichtige Rolle spielen

Die Opposition, allen voran die pro-europäischen, progressiven Kräfte, hat jedoch erklärt, dass sie unter den gegebenen Bedingungen eines kontrollierten Mediensystems und aufgrund der Erfahrung von massiven Unregelmäßigkeiten bei den jüngsten Wahlen nicht an Neuwahlen teilnehmen werde. Dass die Regierungspartei alleine mit ihrem Partner der Sozialistischen Partei zu den Wahlen antreten wird, scheint aber unrealistisch. Langsam werden daher Forderungen nach einer Mediation, einer Übergangsregierung oder einem Runden Tisch, der Neuwahlen von längerer Hand vorbereiten und damit freie und faire Wahlen garantieren würde, lauter.

Diese Diskussionen werden in den kommenden Wochen und Monaten zwischen Serbien, der EU und ihren Mitgliedstaaten geführt werden müssen. Andere Akteure sind längst auf dem Plan. Russland mag dabei sogar nachgeordnet sein. Vor allem auf die USA scheint die serbische Regierung zu schauen und der Besuch von Donald Trump Jr. bei Aleksander Vučićin Belgrad, nur wenige Tage vor dem Protest, ist ein deutliches Zeichen. Die EU und auch eine neue Bundesregierung sollten ihre Solidarität mit der Bewegung in Serbien in dieser wichtigen Stunde ausdrücken und sich entschieden für eine politische und zugleich demokratische Lösung der Lage einsetzen. Dies ist ein Imperativ für Stabilität in Serbien und der gesamten Region.

Autor*in
Kirsten Schönefeld

leitet das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Belgrad.

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