Kolumbien: Wie Präsident Petro die Verfassung für soziale Reformen nutzt
Mit viel politischem Geschick hat Kolumbien Präsident Gustavo Petro in den vergangenen Wochen weitreichende Sozialreformen durchgesetzt. Denn er griff auf ungenutzte Rechte zurück, die mehr als 30 Jahre lang vorlagen.
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Demonstrierende unterstützen die von Gustavo eingebrachten soziale Reformen.
Die jüngsten Erfolge von Präsident Gustavo Petro bei der Arbeitsmarkt- und Rentenreform markieren eine bemerkenswerte Wende in Kolumbiens Politik. Dabei geht es nicht nur um taktische Siege, sondern um einen innovativen Umgang mit der demokratischen Verfassungsordnung, der internationale Aufmerksamkeit verdient.
Kolumbiens Verfassung: Ungenutzte Potenziale für sozialen Wandel
Kolumbiens Verfassung von 1991 entstand als Antwort auf jahrzehntelange Gewalt und auf die damit verbundene tiefe gesellschaftliche Krise – mit einem ambitionierten Katalog sozialer Rechte und demokratischer Beteiligungsmechanismen. Doch mehr als 30 Jahre lang blieben viele dieser Möglichkeiten ungenutzt. Verfassungsmäßige Garantien für würdige Arbeit (Artikel 25) und soziale Sicherheit (Artikel 48) existierten oft nur auf dem Papier, während neoliberale Wirtschafts- und Gesellschaftsmodelle die Realität prägten.
Mit der Verabschiedung der Arbeitsmarktreform im Juni 2025 und der bereits 2024 beschlossenen Rentenreform erfüllt der erste linke Staatspräsident nun nicht nur wichtige Wahlversprechen, sondern löst lange vernachlässigte verfassungsmäßige Vorgaben ein. Die Rentenreform in Kolumbien zeigt, wie die Verfassung als Werkzeug für sozialen Wandel genutzt werden kann. Sie führt eine Grundrente für 2,5 Millionen ältere
Menschen in Armut ein und gestaltet das Rentensystem inklusiver, sodass
mehr benachteiligte Gruppen abgesichert werden.
Durch die Umsetzung verfassungsmäßiger Rechte wie soziale Sicherheit und ein würdiges Leben im Alter trägt die Reform maßgeblich dazu bei, soziale Ungleichheiten zu verringern und die Lebensqualität der Bedürftigsten zu verbessern.
Niedrigste Arbeitslosenquote seit einem Jahrzehnt
Die Arbeitsmarktreform bringt entscheidende Verbesserungen für Arbeitnehmer*innen. Arbeitszeiten werden klar definiert, Zuschläge für Sonn- und Feiertagsarbeit bis 2027 schrittweise erhöht, und befristete Arbeitsverträge sind künftig auf maximal vier Jahre begrenzt, wonach sie automatisch in eine unbefristete Anstellung übergehen. Auch Plattformarbeit wird reguliert, um faire Bedingungen für Beschäftigte in App-basierten Jobs zu schaffen.
Diese Regelungen bringen Standards zurück, die vor der Ära des konservativen Präsidenten Álvaro Uribe bereits existiert haben. Rund zwanzig Jahre nach ihrer Abschaffung legt Gustavo Petro nun eine neue Grundlage für bessere Arbeitsbedingungen zugunsten der Arbeitnehmer*innen. Zeitgleich mit Petros Reform verzeichnet das Land mit 8,8 Prozent die niedrigste Arbeitslosenquote seit einem Jahrzehnt.
Konfrontative Kommunikation: Ein Rezept mit Wirkung
Der parlamentarische Erfolg hat jedoch auch seinen Preis: Petros oft erratisches Auftreten und sein konfrontative Kommunikation, etwa in Tweets, in denen er Gegner unter anderem als „Oligarchen“ bezeichnete, haben nicht zu einer gesellschaftlichen Konsensbildung geführt – im Gegenteil. Ob sich dies nach den parlamentarischen Erfolgen seiner Reformen ändert, bleibt abzuwarten.
Anders als seine Gegner*innen behaupten, hat Petro nach der Blockade seiner Arbeitsmarktreform im Senatsausschuss im März 2025 den Kongress nicht als unüberwindbares Hindernis denunziert. Er kündigte – für viele überraschend – ein in Artikel 104 der Verfassung verankertes demokratisch legitimiertes Referendum an. Nun zeigt sich: Diese Ankündigung war kein populistischer Trick, sondern die geschickte Aktivierung des Rechts der Exekutive, bei Fragen von nationaler Bedeutung das Volk direkt zu konsultieren.
Die Annahme des Senatstextes am 20. Juni machte das geplante Referendum schließlich überflüssig, und unterstreicht die strategischen Fähigkeiten des Staatschefs in aussichtslosen Situationen. Dass die Arbeitsmarktreform eine Mehrheit im Kongress erhielt, ist daher als ein Erfolg Petros und von Millionen von Arbeitnehmer*innen zu werten.
Gustavo Petro hat dazugelernt
Auch Petros Reaktion auf die Rolle des Verfassungsgerichtshofs verdient Beachtung. Als das Gericht die bereits 2024 beschlossene Rentenreform Mitte Juni wegen kleinerer Verfahrensfehler zurückwies, initiierte Petro einen erneuten legislativen Prozess. Der Kongress hat nun 30 Tage, um die Fehler zu korrigieren. Dies mag auf der einen Seite als ein Rückschlag wahrgenommen werden, da die erneute Abstimmung auf Widerstand stoßen könnte: Jedoch bewahrt diese Möglichkeit der Korrektur die Reform
vor einer vollständigen Ablehnung.
Petros Respekt vor verfassungsmäßiger Kontrolle wurde lange bezweifelt, und einige seiner Aussagen ließen befürchten, dass er sich als Präsident dem Gericht überlegen fühlen könnte. Petro scheint jedoch erkannt zu haben, dass die Legitimität seiner Reformen von ihrer verfassungsrechtlichen Solidität abhängt. Dies zeugt von einem Lernprozess, den auch konservative Kritiker*innen anerkennen sollten.
Kombination von Straßenpolitik und parlamentarischer Arbeit
Besonders beeindruckend bleibt jedoch Petros Verknüpfung von sozialer Mobilisierung und institutionellen Prozessen. Demonstrationen wie die „marcha de las canas“ (Marsch der grauen Haare) für die Rechte von Rentner*innen und die Arbeiterdemonstrationen wurden nicht als außerparlamentarischer Druck inszeniert, sondern als legitimer Ausdruck verfassungsmäßiger Beteiligungsrechte genutzt. Diese Kombination aus Straßenpolitik und parlamentarischer Arbeit schuf eine produktive Energie, die den legislativen Prozess vorantrieb – ohne ihn zu umgehen.
Petros Ansatz zeigt, dass Verfassungsmechanismen nicht als Hürden, sondern als Werkzeuge für Wandel genutzt werden können. Die strategische Nutzung parlamentarischer, direktdemokratischer und gerichtlicher Kanäle eröffnet alternative Wege zu Reformzielen. Respekt gegenüber gerichtlicher Kontrolle stärkt die Legitimität politischer Vorhaben, während gesellschaftliche Mobilisierung die institutionelle Arbeit ergänzt und legitimiert.
Solide Grundlage für sozialen Wandel
Gustavo Petro hat erneut eindrucksvoll bewiesen, dass er seine Gegenspieler überraschen kann. Aber auch, dass progressive Transformation selbst unter schwierigen Bedingungen innerhalb demokratischer Verfassungsordnungen möglich ist. Kolumbien hat damit einen politischen Weg eingeschlagen, der weder als dogmatischer Linkspopulismus noch als neoliberale Anpassung charakterisiert werden kann. Trotz interner Konflikte und organisatorischer Herausforderungen seiner Regierung zeigt Petros Ansatz, dass die strategische Nutzung verfassungsrechtlicher Mechanismen eine solide
Grundlage für sozialen Wandel bietet.
Ob sein Modell eine Inspiration für eine demokratische Erneuerung und eine neue sozialdemokratische Praxis wird, bleibt abzuwarten. Unbestreitbar sind jedoch die Fortschritte in Sachen sozialer Gerechtigkeit, die Kolumbien in diesen Junitagen erreicht hat.